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Politbüroprozeß: Nebenklage will mildere Strafen

■ Nebenklage verlangt je 8,5 Jahre für alle drei früheren DDR-Politbüromitglieder. Heftiger Streit zwischen Verteidigung und Vorsitz um Schlußwort der Angeklagten

Berlin (taz) – Im Politbüroprozeß vor dem Berliner Landgericht hat die Nebenklage für zum Teil mildere Strafen als die Staatsanwaltschaft plädiert. Der Vertreter der Nebenklage, Hanns Ekkehard Plöger, forderte gestern die 27. Strafkammer auf, alle drei Angeklagten zu je 8,5 Jahren Haft zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft verlangt für den ehemaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz hingegen elf Jahre, für den Berliner Ex-SED-Bezirkschef Günter Schabowski neun und den Wirtschaftsexperten Günther Kleiber 7,5 Jahre Haft.

Krenz wird Totschlag in vier, den beiden anderen Angeklagten in drei Fällen vorgehalten. Dagegen sprachen sich die Verteidiger für Freispruch aus. Plöger, der Angehörige mehrerer Opfer vertritt, erklärte, ein abgestuftes Strafmaß, wie es die Staatsanwaltschaft fordere, sei nicht möglich. Der Beitrag der Angeklagten zu den einzelnen Tötungsfällen an der Grenze sei nicht festzustellen. Das Politbüro habe im wesentlichen kollektiv gehandelt. Die Darstellung insbesondere von Schabowski, nur unzureichend über die Grenzvorfälle informiert gewesen zu sein, wies er zurück. Auch in der DDR habe der Grundsatz gegolten: „Unkenntnis schützt vor Strafe nicht.“

Das Urteil, so räumte Plöger ein, habe von vornherein festgestanden, schließlich verjährten Mord und Totschlag nicht, und die Opfer an der Mauer seien nicht „wegzudiskutieren“. Horst Schmidt, dessen Sohn 1984 im Alter von 20 Jahren an der Grenze erschossen wurde, warf den Angeklagten vor, im Verfahren Unwahrheiten verbreitet zu haben. Die Mauer sei nicht aus militärischen Gründen gebaut worden, sondern um ein Ausbluten des Landes zu verhindern. Auch habe jeder in der DDR gewußt, daß an der Grenze geschossen worden sei. Es könne nicht angehen, daß das „Politbüro weniger gewußt hat als der kleine Mann auf der Straße“.

Zu einem Streit kam es zwischen dem Gericht und der Verteidigung von Krenz und Kleiber über das Schlußwort der Angeklagten. Das Gericht hatte zunächst darauf bestanden, daß die Schlußworte noch am gestrigen 114. Verhandlungstag gehalten werden sollten. Nach einer Unterbrechung hatte Krenz' Rechtsanwalt Robert Unger das Verhalten des Gerichts als „unangemessen“ gerügt.

Nach kurzer Verhandlungspause nahm der Vorsitzende Richter Josef Hoch seinen ursprünglichen Beschluß zurück. Die Schlußerklärung der Angeklagten soll nun am kommenden Montag gehalten werden. Zur Begründung sagte Hoch, man wolle nicht den Anschein erwecken, das Recht der Verteidigung in unzulässiger Weise einzuschränken. Severin Weiland

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