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Grüner Traum und grüne Realität

Um das aussichtsreichste Direktmandat der Grünen bei der Bundestagswahl 1998 ist ein Streit entbrannt. In Berlin-Kreuzberg treten mit Christian Ströbele und Andrea Fischer zwei ganz unterschiedliche Typen von grünen Politikern an  ■ Von Dieter Rulff

Als Christian Ströbele vor vier Jahren zum ersten Mal in Berlin- Kreuzberg um ein Direktmandat für den Bundestag kämpfte, hielt ihm sein Konkurrent Kurt Neumann von der SPD vor: „Sie wildern in fremden Wäldern.“ Mittlerweile ist der Grünen-Politiker der Platzhirsch im Revier zwischen Schlesischem Tor und Potsdamer Platz. Der sozialdemokratische Nebenbuhler von einst ist über eigene Verfehlungen gestolpert. Seine möglichen Nachfolger haben mit der Schwindsucht zu kämpfen, die die Berliner SPD befallen hat, seit sie in einer Großen Koalition regiert. Gute Voraussetzungen also für Ströbele, bei der Bundestagswahl 1998 das erste Direktmandat für seine Partei zu holen.

Doch nun wird dem Grünen- Vormann das Revier in den eigenen Reihen streitig gemacht. Die Bundestagsabgeordnete Andrea Fischer hat gleichfalls ihr Interesse an einer Direktkandidatur bekundet. Vorige Woche starteten die beiden ihren parteiinternen Vorwahlkampf. Denn um das Manko mangelnder Popularität auszugleichen, soll der Kandidat der Grünen bereits Anfang Oktober der Öffentlichkeit präsentiert werden. Er hat dann ein Jahr Zeit, sich im Bezirk einen Namen zu machen.

Bislang vermag keiner der Parteiauguren den Ausgang der Konkurrenz zu prognostizieren. Die Zeiten, in denen stramm nach Seilschaft abgestimmt wurde, sind auch bei den Berliner Grünen vorbei. Obgleich beide Kandidaten auf ein klassisch-linkes Vorleben verweisen können, stehen sie doch für zwei unterschiedliche Typen grüner Politiker. Der 58jährige Ströbele hat eine beeindruckende politische Vita: 68er, RAF-Anwalt, taz-Mitbegründer; er hat die Grünen von ihrer Gründung an begleitet und war vom Bundestag bis zum Bezirksparlament, vom Bundes- bis zum Landesvorstand auf fast allen Posten, die die Partei so zu vergeben hat, schon mal aktiv.

Andrea Fischer, gut zwanzig Jahre jünger als Ströbele, kann diesbezüglich kaum mithalten: gelernte Druckerin, taz-Mitarbeiterin, danach Forschungsinstitut und Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Einen Namen machte sie sich vor allem als Sozialpolitikerin der Grünen im Bundestag, die mit ihren Vorschlägen selbst den Fachkollegen der anderen Bundestagsfraktionen Respekt abnötigt. Sie sei eine „intelligente Frau mit hohem Sachverstand“, bescheinigt ihr der SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler. Ein Lob, das um so mehr wiegt, als Dreßler Andrea Fischer eigentlich nicht sonderlich zugetan ist.

Die Sozialexpertin sieht es als ihr Verdienst an, das urgrüne Programm einer sozialen Grundsicherung in das Modell einer gemischt finanzierten Absicherung gegen Armut umgewandelt zu haben, das der Praxis standhält. Dieses Modell verteidigt sie gegenüber den Kreuzberger Grünen, denen sie sich letzte Woche zusammen mit Ströbele als Kandidatin präsentierte. Der mehrheitlich linken Bezirksgruppe ist soviel Kompromiß mit den Gegebenheiten der sozialen Sicherungssysteme nicht geheuer.

Auch Ströbele erkennt darin eher die Aufgabe gewohnter klarer Programmatik und verübelt Fischer, daß sie „den Traum von vielen Grünen beiseite geschoben hat“. Den Versuch des Anwalts, diesen Traum über eine Erhöhung der Vermögenssteuer zu retten, redet die Sozialpolitikerin in einem Stakkato von „Anspruchsberechtigung“, „Ausfallzeiten“, „Gerechtigkeitsproblem“, „Rentenhaushalt“ in Grund und Boden. Ihre Argumentation ist so lückenlos, ihre Satzfolge so atemlos dicht, daß für fachlich weniger bewanderte Zuhörer meist kein Durchkommen ist.

Dreiminütige Volkshochschulkurse in Sachen Rentenrecht, die keine Unklarheit unbeseitigt lassen, sind eine Spezialität Fischers. Sie habe aus der Grundsicherung ein politikfähiges Konzept gemacht, das mittlerweile sogar von den sozialpolitischen Dogmatikern der SPD anerkannt wird, sagt sie. In diesem Sinne bekennt sich die ehemalige Parteilinke dazu, „Realpolitikerin zu sein“. Ihre Erfolge mögen ihr recht geben, doch klingt das Bekenntnis in manchen Ohren der Kreuzberger Grünen eher wie ein Schuldeingeständnis.

Ströbele ist „natürlich ein Linker“. Und wo andere seiner ehemaligen Politgenossen in Anbetracht des Zusammenbruchs des Realsozialismus stille und oder auch laute Einkehr hielten, steht er stolz dazu, im Prinzip dasselbe zu vertreten wie vor zwanzig Jahren. In Kreuzberg, wo so manche schwerwiegende Frage noch danach entschieden wird, ob es dem System nützt oder nicht, wird dieser aufrechte Gang mit Anerkennung quittiert. Ströbele möchte sich im Bundestag engagieren, „weil ich die Gesellschaft radikal verändern will“, „weil gleiche Chancen für die Menschen jetzt noch weniger gegeben sind als vor zwanzig Jahren“ und „Freiheitsrechte über den Jordan gehen“. Die Realpolitikerin Fischer ist realistisch genug, sich mit Ströbele, dem Experten für innere Sicherheit, auf keinen Schlagabtausch auf seinem Fachgebiet einzulassen.

In der Bonner Parteispitze möchte man auf die Fachkompetenz Fischers ungern verzichten. Gleichzeitig weiß man, daß die Berliner Parteilinke nicht verprellt werden darf. Man beläßt es folglich beim Prinzip der Nichteinmischung in die Angelegenheiten eines Landesverbandes. Man würde nur etwas verkomplizieren, das ohnehin ein Problem ist: In der Hauptstadt gibt es nur drei sichere Mandate für die Grünen. Dafür bewirbt sich mit der baupolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion, Franziska Eichstätt-Bohlig, eine weitere unverzichtbare Fachpolitikerin. Außerdem wäre es in den Augen des Bundesvorstandes „ein falsches Signal“, würde nicht auch der Osten bei der Kandidatenaufstellung berücksichtigt. Aller Voraussicht nach wird sich Marianne Birthler, ehemalige Sprecherin des Bundesvorstandes, um ein Mandat bewerben.

Um allen vier – Fischer, Ströbele, Eichstätt-Bohlig und Birthler – eine Chance zu geben, müßten sich die Berliner Grünen auf rund fünfzehn Prozent steigern. Wenn nicht, würde der direkt gewählte Kandidat einen der anderen drei auf der Landesliste verdrängen. Bei solchen Aussichten wird mit allen Finessen gerungen. So wird Ströbele in Kreuzberg zugute gehalten, daß zu seinen Gunsten die PDS auf einen eigenen Kandidaten verzichten würde. Entsprechende Zusagen wollen Mitglieder der Grünen von der linken Konkurrenz erhalten haben. Die PDS erzielte in Kreuzberg zuletzt vier Prozent. Es wäre zwar die einzige Art von Wahlabsprache zwischen zwei Parteien, für viele Grüne im Alternativbezirk sind die vier Prozent jedoch ein schwerwiegendes Argument, das für Ströbele spricht. Die Sozialpolitikerin Fischer kann auf solche zweifelhafte Wahlhilfe verzichten. Was der Ströbele von der PDS an Stimmen bekomme, da ist sie sich sicher, werde sie „in den Altenheimen holen“.

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