■ Junge Grüne fordern einen neuen Generationenvertrag und den Abschied von der Ideologie der Vollbeschäftigung: 68er – raus aus den Pantoffeln!
Bonn, ein Jahr vor der Bundestagswahl: Rien ne va plus – nichts geht mehr. Die Einsätze sind gemacht, und alle warten gespannt darauf, ob die Roulettekugel auf Rot oder Schwarz zu liegen kommt. Die Bundesregierung hat abgewirtschaftet und kann nur darauf hoffen, daß sie wie 1994 von einem wirtschaftlichen Aufschwung gerettet wird. Aber auch der Einsatz von SPD und Bündnis 90/Die Grünen basiert noch auf ungedeckten Schecks. Anstatt konkrete Konzepte für den Regierungswechsel zu präsentieren, wird gehofft, daß Genosse Trend noch ein Jahr stabil bleibt. Hier endet die Analogie zum Roulettespiel. In der Politik kann der Lauf der Kugel beeinflußt werden. Allerdings reicht es nicht, eine ruhige Kugel zu schieben.
Vor diesem Hintergrund stehen 1998 bei der Bundestagswahl zwei Politikergenerationen im Mittelpunkt: der dann 68jährige Kohl und die 68er von der SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Unsere Generation muß verdeutlichen, daß es 1998 um mehr geht als die übliche ritualisierte Wahlkampfschlacht. Es geht um nichts Geringeres als die Formulierung eines neuen Generationenvertrags, um den Start in den Staat des 21. Jahrhunderts.
Die Politik des 68jährigen hat inzwischen mehr mit Ritualen zu tun als mit der Realität im Lande. Obwohl jede Neujahrsansprache des Kanzlers von tiefer Sorge über die Arbeitslosigkeit geprägt war und er jedes Jahr wieder Besserung gelobte, sind mit jedem Tag der Kanzlerschaft Helmut Kohls 500 Arbeitslose hinzugekommen. Der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen sinkt stetig – und zugleich wird genau dieses Einkommenssegment mit immer neuen Steuern und Abgaben belastet. Zentraler Glaubenssatz des 68jährigen ist: Wenn ich Spitzenverdiener steuerlich entlaste, nehmen diese das Geld und schaffen damit Arbeitsplätze. Doch Kohls Bürger verhalten sich anders als erwünscht. Sie legen ihr Geld lieber im Ausland an oder geben es in die Hände der Banken, die auch nicht anders damit verfahren.
Die Arbeitsplätze fehlen, und der daraus folgende Teufelskreis ist angesichts von über vier Millionen Arbeitsplätzen am Ende der Amtszeit Kohls durch nichts mehr zu überdecken. Immer weniger Beschäftigte zahlen immer höhere Beiträge in die Sozialversicherungen. Angesichts der Beitragssteigerungen lohnen sich Rationalisierung und Jobabbau, was die Arbeit der wenigen noch teurer macht. Neue Beschäftigungsfelder für BerufseinsteigerInnen werden so nicht erschlossen. Es ist diese Bundesregierung, die die höchsten Lohnnebenkosten in dieser Republik zu verantworten hat und gleichzeitig eben diesen Zustand beklagt: Die Bundesregierung klagt über sich selbst. Angesichts der Krise auf dem Arbeitsmarkt ist die Teilhabe von Frauen am Erwerbsleben für den 68jährigen kein Thema mehr. Das Ideal der treusorgenden Hausfrau wird aus der gesellschaftlichen Mottenkiste hervorgekramt.
Den 68ern kommt beim Start in den Staat des 21. Jahrhunderts eine Schlüsselfunktion zu. Wir befürchten allerdings, daß die 68er ihr 30jähriges Jubiläum zum Anlaß nehmen, sich die Stories der Revolte zu erzählen, statt den Fahrplan für den Regierungswechsel und für eine neue Politik in Deutschland zu entwerfen. Die 68er müssen raus aus den Filzlatschen und die Chance zum Regierungswechsel begreifen und nutzen. Mit den Geschichten und Konzepten von damals ist heute kein Staat mehr zu machen. Vielmehr müssen sich die 68er auf ihre Stärken besinnen: Der Erfolg von 1968 bestand darin, Bestehendes in Frage zu stellen, Unmut über den Zustand der Gesellschaft zu erzeugen und diesen in Reformen umzusetzen. Ihnen ist es gelungen, gesellschaftliche Verkrustungen aufzubrechen. Damals haben die 68er die Gesellschaft weiterentwickelt.
Dagegen trifft heute eine innovationsbereite Gesellschaft auf verkrustete Strukturen in der Politik. Der Unterschied zwischen gesellschaftlicher Realität und politischem Handeln wird immer größer. 1998 müssen die 68er die gesellschaftliche Realität einholen. Es wird wieder darauf ankommen, neue Wege zu gehen. Unsere Partei muß begreifen, daß nicht alles, was nicht funktioniert, eine Utopie ist. Jürgen Trittin proklamiert, daß „wir unsere Partei darauf vorbereiten müssen, was es heißt, die größte Wirtschaftsmacht Europas mitzuregieren“. Schon wahr – es wird Zeit, damit anzufangen. Unsere Politik muß sich in das Zentrum der gesellschaftlichen Probleme bewegen. Es reicht nicht mehr, sich mit den Mittelklassestammwählern zufriedenzugeben. Die alten ritualisierten Rechts-links- und Konservativ-progressiv-Gefechte sind dafür gänzlich ungeeignet. Wir fordern alle Mitglieder der Partei auf, sich der geänderten Wirklichkeit zu stellen.
Für unsere Generation geht es nicht mehr um die Beschwörung der Vollbeschäftigung. Wir brauchen einen neuen Arbeitsbegriff. Ehrenamtliche Tätigkeit, Hausarbeit, Kindererziehung und soziales Engagement sind gesellschaftlich genauso wertvoll wie Erwerbsarbeit. Uns ist klar, daß Teilzeitarbeit und Phasen von Arbeitslosigkeit zu unserer Erwerbsbiographie gehören werden. Immer mehr junge Menschen werden sich selbständig machen (müssen). Die Politik muß diese Kreativität und Risikobereitschaft unterstützen und nicht wie bisher im Keim ersticken. In der globalisierten Arbeitswelt werden sich die Lebensläufe von Frauen und Männern angleichen. Es besteht die Chance, daß im Zuge dieser Entwicklung die alten Rollenklischees endgültig überwunden werden können. Und eine moderne Gesellschaft erwartet auch ein modernes Bildungssystem. Die Bildungspolitik muß dem Bedarf der Gesellschaft nach lebenslangem Lernen endlich nachkommen.
Wir wollen 1998 den Regierungswechsel. Es wird Zeit, daß sich jedeR einzelne in unserer Partei der Verantwortung für dieses Ziel endlich bewußt wird. Die 68er haben das Potential, Helmut Kohl endlich abzulösen. Damit der Wechsel gelingt, müssen sie glaubhaft machen, daß sie regieren wollen und daß sie es besser können. Wir werden sie zum Jagen tragen. Angesichts der Stagnation in dieser Republik liegt es an uns, den Staat fit für den Start ins 21. Jahrhundert zu machen. Bündnis 90/ Die Grünen haben das Potential dazu. Schließlich ist es uns gelungen, Umweltschutz als festen Bestandteil unserer Gesellschaft zu verankern. Unser Slogan der 80er Jahre ist aktueller denn je: „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt.“ Durch einen neuen Generationenvertrag müssen wir dieser Verantwortung nachkommen. Mathias Wagner
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