: Jedem sein eigenes „J'accuse“
■ 100 Jahre nach der Dreyfusaffäre bezichtigt Frankreichs Premier die Opposition der antisemitischen Komplizenschaft
Paris (taz) – Ein paar Tage lang waren sich alle Franzosen einig: 100 Jahre nach dem „J'accuse“ von Emile Zola, dessen Veröffentlichung am 13. Januar 1898 die Wende in der Dreyfusaffäre ausgelöst hatte, zeigte sich das Land parteiübergreifend stolz auf den aufklärerischen Intellektuellen. Der Staatspräsident, die Regierung und fast alle Medien begingen das Ereignis feierlich. Dann kam Lionel Jospin, Sozialist, Premierminister und erster Geschichtslehrer der Nation, und beanspruchte Zolas Ruhm ganz allein für sich und die Seinen. „Die französische Linke war Dreyfusarde“, behauptete er am Mittwoch nachmittag im Parlament, „die Rechte war Anti- Dreyfusarde“.
Damit war die schöne Einigkeit dahin und der Skandal da. Einzelne konservative Abgeordnete krempelten umgehend die Ärmel hoch und strebten entschlossen zum Rednerpult. Doch dort bildeten kräftige Saalordner einen schützenden Kreis um den Premierminister. Andere Parlamentarier riefen das landesübliche empörte: „Ho, ho!“ und die Aufforderung „Rücktritt, Rücktritt!“ in den Raum. Eine Dame im Kostüm schrie: „Idiot!“ Schließlich setzt sich die Abstimmung mit den Füßen durch. Die Opposition verließ einfach geschlossen den Parlamentssaal.
Mit seinen Anschuldigungen hatte Jospin die komplette französische Rechte des ausgehenden 19. Jahrhunderts des Antisemitismus beschuldigt. Und er hatte ihr implizit vorgeworfen, sie habe die militärische Verschwörung gegen den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus, der als Staatsverräter verurteilt und anschließend auf die Teufelsinsel deportiert worden war, organisiert und unterstützt, während die Linken jener Zeit sich für den unschuldig Verurteilten stark gemacht hätten.
Auch die Linke war nicht frei von Antisemitismus
Tatsächlich waren die Parteigrenzen bei der größten französischen Staatsaffäre jener Zeit durchaus verschwommener. Zwar hatten Militärs die Verschwörung gegen Dreyfus organisiert und nutzten antisemitische und antirepublikanische Demagogen die Gelegenheit, um die Stimmung im Volk anzuheizen, doch waren auch die Linken jener Zeit keineswegs frei von derlei Ressentiments. Selbst Zola ließ in seinen frühen Romanen immer wieder antisemitische Vorurteile durchblicken. Und der französische Sozialistenführer Jean Jaurès wechselte erst nach der Veröffentlichung des „J'accuse“ in der Zeitung L'Aurore ins Lager der Anti-Dreyfusards.
Die ersten Zeitgenossen, die handfeste Beweise für die Unschuld von Dreyfus lieferten, waren tatsächlich zwei politisch moderate Männer – ein katholischer Militär und ein protestantischer Senator –, die per Zufall auf gefälschte Dokumente gestoßen waren und lange vor Emile Zola, wenngleich mit weniger Erfolg, versucht hatten, die Dreyfusaffäre erneut aufzurollen.
Jospin, der im französischen Parlament in den vergangenen Monaten auch schon erfolgreiche Geschichtsstunden zum Thema Kommunismus und zum Kollaborateursregime von Vichy abhielt, hat im Falle von Dreyfus danebengegriffen. Das bestätigten ihm gestern nicht nur Oppositionelle, sondern auch Historiker, die eher den Linken nahestehen. Darüber wurden seine tagesaktuellen politischen Ziele nur um so durchsichtiger: Angesichts einer über die gegenwärtige Arbeitslosenbewegung intern heillos zerstrittenen linken Regierung ist der Premierminister nun darum bemüht, die historischen Gegensätze zwischen Linken und Rechten herauszuarbeiten. Dorothea Hahn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen