Wie viele Fragen verträgt eine Ehe?

■ Die Ankläger halten einen Beziehungskonflikt zwischen Klaus und Veronika Geyer für das Motiv des Pastors, der seine Frau getötet haben soll. Doch Freunde und Bekannte schildern die Ehe als komplexer

Wer ins Fadenkreuz des Verdachts gerät, einen Menschen getötet zu haben, sieht sein Leben unvermutet von anderen Menschen durchleuchtet. Seit Pastor Klaus Geyer im Verdacht steht, das Gesicht seiner Ehefrau Veronika bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert zu haben, haben viele Menschen begonnen, Fragen zu stellen: erst die Ermittler, fast zeitgleich die Medien, schließlich das Landgericht Braunschweig.

Freunde und Bekannte des Ehepaars Geyer treibt eine Frage besonders um – und sie ist gerichtet an die eigene Erinnerung: Wie paßt in das Bild, das sie zum Teil über Jahre von den beiden gewonnen haben, die zentrale These der Staatsanwaltschaft, ein „ernsthafter Beziehungskonflikt“ sei das Motiv für den Totschlag gewesen?

Um ihre These zu belegen, hat die Anklagevertretung gestern mehrere Zeuginnen „aus dem persönlichen Umfeld“ des Angeklagten vorgeladen (siehe obigen Bericht). Die Verteidigung hat im Vorfeld keinen ernsthaften Versuch unternommen, Berichte auch in seriösen Medien zu bestreiten, der Pfarrer habe seit Jahren außereheliche Beziehungen geführt. Der Spiegel berichtet unter Berufung auf Ermittlungsakten, Geyer soll in der Nacht, nachdem er seine Frau als vermißt gemeldet hatte, mit einer Freundin Geschlechtsverkehr im Ehebett gehabt haben.

Eine streitbare, aber keine zerstrittene Ehe hätten Klaus und Veronika Geyer geführt, erzählte ein befreundeter Pastor der taz vor Beginn des Prozesses am 2. Februar. Der Kollege, der Klaus Geyer auch in der Untersuchungshaft besuchte, hält das angebliche Tatmotiv, also den „ernsthaften Beziehungskonflikt“ als Folge sexueller Affären, für konstruiert. „Das find' ich so dusselig, weil es die Sache genau umdreht“, empört sich der Pfarrer. Vielleicht hätte es ja in der Familie Geyer Seitensprünge gegeben – „aber das stabilisiert doch so 'ne Ehe!“ Zur Begründung erzählt er von der Vergangenheit: Klaus Geyer studierte in den 60er Jahren in Berlin, er und seine Frau waren seit den 70er Jahren in der Friedensbewegung engagiert, organisierten zu Pfingsten auf dem Pfarrhof internationale Friedensfestivals, zu denen allein 1980 etwa 3.500 junge Leute mit Rucksack und Zelt anrückten. Die Ehepartner waren, wie ihr Freund und Kollege sie beschreibt, klassische 68er. Weil die Ermittler dies verkannt hätten, seien sie bei der Motivsuche „einem Mißverständnis von Ehe“ aufgesessen. So wie die Staatsanwaltschaft Pastor Geyer durch die persönlichen Hintergründe der Familie belastet sieht, hält der Kollege die Umstände für entlastend: Die Vorstellung der Geyers von Beziehungen hat sich deutlich abgehoben von den Klischeebildern einer Pfarrehe, Seitensprünge eingeschlossen. „Aber wenn Klaus Geyer jetzt sowas zu seiner Verteidigung vorbringen müßte, um die Struktur der Ehe richtig darzustellen, das ist doch fürchterlich peinlich, vor so einem kleinbürgerlichen Publikum“, sagt der Pfarrer. „Über die eigene Ehe nachdenken, das macht man doch mal abends, schön mit bunten Tellern und einem Gläschen Wein.“

Nicht alle Bekannten teilen das rosige Bild. Ja, die Enthüllungen zu sexuellen Eskapaden hätten Zweifel an seinem Bild von Klaus Geyer aufgeworfen, ganz unabhängig von dem Totschlagsverdacht, sagte ein leitender Kirchenfunktionär aus Niedersachsen der taz. Der Mann, der den Angeklagten persönlich kennt, sucht tastend nach Worten, die differenzierter beschreiben, was einige Medien „das sexuelle Doppelleben des Todes-Pastors“ nennen. „Klaus Geyer hat auf einem sehr hohen moralischen Niveau gelebt“, sagt er dann, „und vielleicht hat er dabei über seine Verhältnisse gelebt.“ Als unermüdlich in allen Dingen, weltlichen, kirchlichen, privaten, erscheint Geyer in dieser Charakterskizze – und als unerbittlich, vor allem gegen sich selbst. „Man kann seine moralischen Ansprüche auch so hoch hängen, daß man selber nicht mehr rankommt.“ Beunruhigend sei nicht zuletzt der Gedanke, was die Ermittlungen für den Berufsstand des Pfarrers bedeuteten, meint der Kirchenmann – zu einfach wäre es jedenfalls, die Lücke zwischen Schein und Wirklichkeit in der komplizierten Ehe der Geyers zum Einzelfall zu erklären. Er frage sich selbst, sagt der Kirchenfunktionär, „zu wieviel Aufbau von Fassade wird man in diesem Beruf von anderen genötigt?“ Es wird mit den Fragen so schnell kein Ende nehmen. Nach Abschluß des Prozesses vor dem Landgericht Braunschweig wird sich ein Kirchengericht mit der Ehe der Geyers befassen. Im Juli hatte die Hannoversche Landeskirche gegen ihren Pastor ein Disziplinarverfahren wegen des Verdachts auf Totschlag eingeleitet. Im Dezember ist ein zweites Verfahren eröffnet worden. Der Vorwurf lautet auf „unangemessene Lebensführung“. Patrik Schwarz