piwik no script img

Ursuppe des Techno

Auf der Suche nach den Wurzeln elektronischer Musik wird jetzt Electro wiederentdeckt. Die Blaupause des Genres geht auf Africa Bambaata zurück  ■ Von Martin Pesch

Es ist dieser spezielle Klang der Snaredrum. Irgendwann hat jemand an seiner Beatbox die Möglichkeit entdeckt, einen Halleffekt auf den Beat zu legen und ihn in einem bestimmten Moment abzuschneiden. Was immer zu dieser so manipulierten Snaredrum an Baßfigur, HiHat-Muster, Samplerklängen oder Vocoderstimmen hinzukommen mag – es ist dieser gebrochene, abgehakt-stolpernde, metallisch und äußerst künstlich klingende Beat, an dem man vom ersten Takt an das Genre erkennen kann: Electro.

Aber liegt in dieser zuvorderst rein technischen Manipulation nicht schon das Geheimnis und das geheimwissenschaftliche Raunen verborgen, das bald zur Sprache kommt, sobald das Thema Electro zur Debatte steht? Denn charakteristisch ist nicht mehr die Präsenz (der Moment des Beats), sondern die Art der Behandlung seines Nachhalls – also der Umgang mit Transzendenz, das Bewußtsein des Anderen, das Erscheinen des Aliens.

Electro war die erste postmoderne Musik

Nachdem Electro jahrelang vergessen schien und man sich lediglich aus nostalgischen Gründen ab und an die exzentrischen, an Spielautomaten erinnernden Beeps und Klonks und die überdrehten Vocoderstimmen anhörte, läßt seit einiger Zeit die Flut neuproduzierter Electro-Platten nicht nach. Sie erscheinen auf Compilations, DJs mixen Neuerscheinungen des Genres zusammen, und Produzenten, die man bislang für House- oder Techno-Puristen hielt, bringen gleich ganze LPs heraus, die klingen, als hätten sie nie etwas anderes als Electro gemacht. Und damit sind wir schon ziemlich nah am Kern der Bedeutung angelangt. Denn Electro ist schließlich der Anfang von allem, die Mutter elektronisch produzierter Tanzmusik, die Ursuppe, aus der HipHop und Techno entstanden sind, kurz: die erste postmoderne Musik.

Das ist keineswegs übertrieben, denn Electro entstand in dem Moment, in dem Popmusik nach Punk nicht mehr als lineare Weiterentwicklung, sondern nur noch als seriell erscheinendes Phänomen erklärbar wurde, als Abfolge leicht differenzierter Versionen des Immergleichen. Als der New Yorker DJ Afrika Bambaata 1982 zusammen mit dem Produzenten Arthur Baker das Stück „Planet Rock“ kreierte, war es soweit. Ihre Adaption von Kraftwerks „Trans Europa Express“ im Gewande gerade auf den Straßen der Bronx erfundener DJ-Styles und HipHop-Kultur ist der Blueprint des Genres.

In diesem Stück manifestierte sich die Kombination des „schwarzen“ Funks mit „weißer“ Technologie. Wovon Miles Davis Anfang der siebziger Jahre mit der Elektrifizierung seiner Band, Sly Stone durch die Entdeckung der Beatbox auf seiner LP „There's A Riot Going On“ nur träumen konnten, war durch „Planet Rock“ möglich geworden: die Black Secret Technology. Schwarze Musiker sehen darin die Chance, durch Elektronik einen künstlichen Raum zu schaffen, in dem ihre Identität neu erfunden werden kann; ein Utopia, in dem die jetzige, durch Versklavung und Kolonisation geprägte Situation der Schwarzen als Zustand selbstbestimmter Transformation erklärbar werden könnte. Daß Afrika Bambaata über den ersten Takten von „Planet Rock“, den ersten Electro-Takten überhaupt, die Zulu Nation beschwört, ist eine das Genre definierende Tatsache. Aber eine Definition ist eben immer nur eine Definition.

Das erklärt aber noch nicht die Attraktion, die Electro hauptsächlich im Lager weißer europäischer Musiker zurückgewonnen hat. Zeichen der Techno-Krise? Verdruß gegenüber der geraden Kickdrum, durch den auch die größer werdende Beliebtheit von TripHop, Dopebats, Drum 'n' Bass und experimenteller Elektronik im einst klar abgeschlossenen Technobereich zu erklären ist? Das sicherlich – aber wichtiger ist die Suche jüngerer Musiker nach den Wurzeln des eigenen Tuns in der Geschichte elektronisch produzierter Musik. Dave Clarke sagt es so: „Du hörst in die Vergangenheit, um etwas über die Zukunft zu erfahren. Du kannst nicht in die Zukunft horchen, um es jetzt hörbar zu machen.“ Der Brite Clarke machte um 1994 Furore, als er seine dreiteilige „Red“-Serie veröffentlichte. Diese Technoplatten zeichneten sich durch die integrierte Backspin-Technik aus, also das von DJs als Mixtechnik angewendete Rückwärtsdrehen des Plattentellers. Darunter lag bei Clarke eine bis dahin in solcher Vehemenz nicht gehörte Bassdrum, die ein mittleres Erdbeben auf den Tanzflächen auslöste.

Leichter tanzen zu Eurythmics-Texten

Seitdem ist er einer der begehrtesten Remixer – gerade liegt ein Band von Metallica in seinem Studio. Sein dadurch etwas abgenutztes musikalisches Profil hat Clarke geschärft durch zwei Compilations namens „Electro Boogie“. Darauf hat er aktuelle und alte Electro- Veröffentlichungen gemixt. Er ist damit einer der prominenten Produzenten aus der Techno-Szene, die vehement für Electro eintreten. „Techno oder elektronische Musik gibt es für mich nicht, ich sage zu allem Electro“ – so sein Credo. Clarke hat als DJ in den letzten Jahren beobachtet, daß immer mehr Leute in Clubs zum Zuhören strömen, die nur herumstehen und dem DJ auf die Finger gucken. „Electro“, sagt er, „klingt für viele Leute komischerweise neu. Und dazu kann man leichter tanzen.“

Clarkes Feststellung scheint sich an insbesondere einem Beispiel zu bestätigen, dem Track „Space Invaders Are Smoking Grass“ des Holländers I-f. Der aus der Den Haager Hausbesetzer- und dortigen anarchohaften Technoszene kommende Produzent landete mit diesem Titel den Clubhit des letzten Jahres, der seitdem auf noch jeder Electro-Compilation vertreten ist. I-f, der nur seinen Vornamen Ferenc preisgibt, vermischt in diesem Stück 80er-Jahre-Anleihen in Form von Eurythmics-Texten und Cure-Melodien mit dem aktuellen in der Luft liegenden Trend zum Electro. „Ich habe mir das überhaupt nicht ausgedacht“, sagt er, „es zeigt sich in dem Stück aber meine eigene musikalische Geschichte. Ich bin mit der Musik, die ich zitiere, aufgewachsen. Später habe ich gelernt, daß man keine Ehrfurcht vor den großen Namen haben muß.“ Hier dient also Electro vor einem ganz anderen, persönlichen Lebenshintergrund dazu, eine eigene Geschichte zu vermitteln.

So eigen aber auch wieder nicht. Denn die Erstveröffentlichung von „Space Invaders...“ erschien auf „From Beyond“, einer vierteiligen EP-Serie, die im Lauf dieses Jahres auch als CD erscheinen wird. Zusammengestellt werden diese Platten von Brendan M. Gillen. Der wiederum ist Teil des Detroiter Projekts Ectomorph. Deren selten erscheinende Platten stehen für die Bewahrung und behutsame Weiterentwicklung des Detroit-Electro. Denn neben dem New Yorker Stamm, aus dem sich HipHop entwickelte, ist in der Metropole des Mittelwestens seit den frühen 80er Jahren eine Electro-Spielart zu Hause.

Seit dem Track „Clear“ von Cybotron, einem frühen Projekt von Juan Atkins, ist Detroit-Electro abstrakt, technologie-orientiert und kommt weitgehend ohne Vocals aus. In Detroit hat sich über die Jahre auch eine kontinuierlich aktive Electro-Szene gehalten, die immer eng an die dortige Technoproduktion angebunden war. Neben Electromorph ist dies insbesondere das geheimnisumwitterte Projekt Drexciya, benannt nach einem fiktiven in der Tiefsee liegenden Kontinent, der von menschenähnlichen, intelligenten und durch Kiemen atmenden Lebewesen bevölkert wird.

In offiziellen Verlautbarungen erklären die Mitglieder von Drexciya dem, aus ihrer Sicht, global herrschenden Kontrollsystem aus Medien- und Militärkonzernen den Krieg. Ihrem Electrosound ist deshalb jenseits von Trends und Historisierung noch die Überzeugung anzumerken, daß „da draußen“ (im All oder tief im Ozean) eine bessere, selbstbestimmte Welt möglich ist. Ihre Musik ist Träger dieser Idee.

Electro schafft soziale Zusammenhänge

In der um Steigerungen des Hipness-Faktors nie verlegenen britischen Musikpresse kursieren seit einiger Zeit Berichte über eine derzeit in Detroit blühende Szene, die unter dem Begriff „Techno Bass“ zusammengefaßt wird. Die Electro-Musik von Projekten wie AUX 88 oder DJ Assault kommt weitgehend ohne den traditionellen Überbau aus und setzt auf die Massivität des Sounds. Darum hat sich in der Ex-Motorstadt eine florierende Partyszene entwickelt, mitsamt funktionierenden Clubs und Plattenläden. Electro hat in Michigan also schließlich das geschafft, was Techno dort nie anstoßen konnte: soziale Zusammenhänge.

Diesseits des Atlantiks treibt unter dem Electro-Signum die Diversifizierung fröhliche Blüten. In Köln beispielsweise arbeitet die kleine Firma Electrocord mit großem Ernst an der Traditionspflege, und in England setzt die DMX Krew eher auf die humoreske Variante. Die Band hat inzwischen ein eigenes Label, dessen Name schon an die alte Party erinnert: Breakin'. Die erste CD-Veröffentlichung kommt dementsprechend von einem Projekt namens Mandroid. Da wundert man sich garantiert nicht mehr über den Titel ihres Debüts, auf dem nicht nur der Vocoder verrückt spielt. Die Platte heißt nämlich „Electro Freaks Rehab Clinic“. Für solche Einrichtungen lohnt sich das „Notopfer Krankenhaus“.

Diverse: „Dave Clarke pres. Electro Boogie Vol.2“ (!K7/RTD); Diverse: „From Beyond“, Vol. 1-4 (Interdimensional Transmission); Mandroid: „Electro Freaks Rehab Clinic“ (Breakin'/EFA); Drexciya: „The Quest“ (Submerge)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen