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Hektischer Catwalk mit Gleisanschluß

Warschauer Brücke: Täglich steigen hier Tausende Passanten zwischen Tramhaltestelle, U- und S-Bahnhof um. Entlang der 500 Meter langen Piste wird gedrängelt, gehandelt, gebettelt – aber niemals innegehalten  ■ Von Esther Kogelboom

Vor dem S-Bahnhof Warschauer Straße werden 10 Paar Tennissocken wahlweise mit oder ohne Streifen für 10 Mark verramscht. Manchmal gibt es auch Broccoli für eine Mark das Netz, tags darauf Erdbeeren, Tomaten oder Pilze. Kaum jemand, der an einem solchen Tag ohne Obst und Gemüse über die Warschauer Brücke marschiert: Ganz Friedrichshain ißt Broccoligratin.

Im Frühjahr mild und sonnig, im Sommer heiß und staubig, zur Herbstzeit naß und zugig, im Winter glatt und eiskalt, das sind die quattro stagioni der Warschauer Brücke. Unzählige BVG-Kunden gehen, laufen, rollen Tag für Tag zwischen Straßenbahn-Endhaltestelle, S-Bahnhof und U-Endbahnhof hin und her, als gelte es, ein Preisgeld zu gewinnen. Nur Durchtrainierte absolvieren den 500-Meter-Spurt von der Endhaltestelle der U-Bahnlinie 1 bis zur nächsten Straßenbahn-Haltestelle so, daß sofort Anschluß zur Tram besteht. Es sei denn, der Verkehr und das rote Ampelmännchen untersagen im letzten Augenblick den Zugang zur Mittelinsel.

Der eigentliche Fußmarsch über die Warschauer Brücke wird angesichts der vielen eingebauten Hürden schnell zum Hindernislauf. Es soll ja Menschen geben, die schon ab Schlesisches Tor darüber nachdenken, ob und wieviel Bares sie den wartenden Schnorrern in die Hände drücken sollen. Andere freuen sich darauf, in der gemütlichen Atmosphäre des „ReisePoints“ noch schnell Zigaretten zu kaufen. Die Obdachlosen freuen sich, halbabgebrannte Glimmstengel vom Boden aufzulesen und aufzurauchen. Ein Narr, wer jemals versucht haben sollte, auf der Warschauer Brücke zu schlendern oder gar stehenzubleiben. Diese Unsitte wird sofort mit Anrempeln, Knuffern und den entsprechenden Begleitaussagen („Dit is hier keen Aussichtspunkt, Alte!“) quittiert. Keine Gnade für Gehbehinderte. Die eigentliche Macht über den schmalen Fußgängerstreifen haben jedoch weder händchenhaltende Pärchen noch slalomfahrende Mütter mit Kinderwagen, sondern die geifernden Rottweiler, die majestätisch ihr fettes Hinterteil schaukelnden Pit Bulls und die knurrenden Promenadenmischungen: Die Warschauer Brücke ist ein Catwalk für Köter. Wie praktisch, daß gleich hinter der ersten Dönerbude ein bißchen Grün ist, wo Herrchen und Hündchen gemeinsam an einem alten Elektrobunker ihr Geschäft verrichten können.

Doch das Stiefkind der benachbarten Oberbaumbrücke, die über die Spree führt, hat noch mehr zu bieten: die atemberaubende Skyline, die keinen Vergleich mit anderen Metropolen scheuen muß. Funkturm, Ostbahnhof und Kaufhof auf der einen Seite, Treptowers und Stralau auf der anderen Seite, und das alles verbunden von unzähligen Gleisanlagen, die sich unter der Brücke entlangwinden. Wer sich richtig urban fühlen will, sollte sich bei Sonnenuntergang in Höhe des S-Bahn-Eingangs positionieren. Mit ein wenig Glück spielen die beiden weißrussischen Straßenmusiker eine ihrer melancholischen Weisen.

Auch um die Nahrungsaufnahme muß man sich nicht sorgen. Sommertags lockt ein Eiswagen, weiter unten gibt's frischgegrillte Würstchen, und in Höhe der Straßenbahn konkurrieren zwei Dönerbuden um die Gunst der Überläufer. Aber nicht vergessen: Vor dem Ausscheren aus der strömenden Masse muß auf jeden Fall ein kurzes Handzeichen gegeben werden, andernfalls könnte es zu schmerzhaften Auflaufunfällen kommen. Wer jetzt denken mag, die Warschauer Brücke sei ein mehr oder minder gefährlicher Fußgängerüberweg, vergißt den sich zu jeder Tageszeit über die Brücke quälenden Autoverkehr. Was mit dem passiert, wenn sage und schreibe im Jahr 2000 die Straßenbahnverlängerung bis zur U-Bahn gebaut werden soll, bleibt offen – ebenso die Zukunft des Einwegsockenstandes.

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