: Viel Papier in der hohlen Hand
Abschlußbericht der Enquetekommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ tut sich schwer, nachhaltige Entwicklung auch sozial und wirtschaftlich zu fassen ■ Von Niels Boeing
Der Titel weckt große Erwartungen: „Konzept Nachhaltigkeit – vom Leitbild zur Umsetzung“ heißt der gestern vorgestellte Abschlußbericht der Enquetekommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ des Bundestages. Man habe Nachhaltigkeit endlich vom „Niveau der Sprechblase heruntergeholt“, lobt die Kommissionsvorsitzende Marion Caspers-Merck (SPD).
Die Kommission, in der Bundestagsabgeordnete sowie Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gewerkschaften vertreten waren, hatte sich viel vorgenommen. Sie wollte nicht allein die ökologische Bedeutung von Nachhaltigkeit, sondern ausdrücklich auch ihren Wert für das Sozialgefüge und ihre Finanzierbarkeit herausarbeiten. Die soziale und die wirtschaftliche Dimension sollten gleichberechtigt neben die ökologische treten. Diese „Integration der drei Dimensionen“ wurde in drei Problemfeldern versucht: bei der Versauerung von Böden, beim Bauen und Wohnen sowie bei der Informations- und Kommunikationstechnik.
Die Vorschläge, mit denen die Kommission die Problemstoffe der Bodenversauerung – Schwefeldioxid, Stickoxide und Ammoniak – reduzieren will, beschränken sich auf neue Grenzwerte. Für die Zementindustrie, die seit jeher besonders viele Stickoxide ausstößt, heißt es lapidar: „Empfohlen wird eine Verringerung der zulässigen Stickoxidemissionen in dem Maße, in dem technische Verbesserungen wirtschaftlich einsetzbar sind.“
Die heißen Eisen finden sich nur im Minderheitsvotum der rot- grünen Kommissionsmitglieder. Sie schlagen auch eine Erhöhung der Mineralölsteuer und ein Tempolimit vor. Diese Maßnahmen dienten in erster Linie dem Klimaschutz. Sie würden aber auch die Emissionen von Stoffen, die die Böden versauern, deutlich senken. Die Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD setzen sich für eine verstärkte Förderung einer ökologischen Landwirtschaft und für weniger Vieh pro Weidelandfläche ein. Denn 95 Prozent des in die Luft entweichenden Ammoniaks stammen aus der Landwirtschaft. „Zu diesen Forderungen konnten sich die Kommissionsmitglieder der Koalition nicht durchringen“, sagt Caspers- Merck. Dabei sind es solche Querverbindungen zwischen Klimaschutz, Bodenversauerung und landwirtschaftlichen Reformen, die das Konzept Nachhaltigkeit eigentlich verlangt.
Ähnlich ernüchternd ist das Ergebnis beim Bauen und Wohnen. Zwischen 1993 und 1997 wurden in der Bundesrepublik täglich 120 Hektar Naturland mit Häusern und Straßen zugebaut. Zwar hat die Enquetekommission die Ursachen dieses drastischen Flächenfraßes herausgearbeitet. Doch die formulierten „Umwelthandlungsziele“ rufen nur nach rechtlichen Regelungen oder technischen Neuerungen wie dem ressourcenschonenden Bauen.
Daß die Koalitionsabgeordneten hier Konzepte wie eine Steuer auf die ökologischen Auswirkungen von Flächennutzung mitgetragen haben, hält Caspers-Merck immerhin für einen Erfolg. Welche sozialen Veränderungen aber nötig sind, um die anhaltende Stadtflucht zu stoppen, oder ob nachhaltiges Wohnen überhaupt ein neues Lebensgefühl schaffen kann, bleibt im Bericht unbeantwortet. „Ob die von der Kommission formulierten Umwelthandlungsziele zur Flächennutzung mit den im Bereich Bauen und Wohnen vorliegenden ökonomischen und sozialen Zielen verträglich sind, konnte nicht geprüft werden“, gibt die Kommission zu.
Leichteres Spiel hatte sie bei der Informations- und Kommunikationstechnik (IuK). Die Nachhaltigkeitsdebatte über diesem jungen Industriezweig ist noch neu. Doch gerade die Informationstechnik verändert derzeit den Alltag der Menschen. Die Enquetekommission fordert aber nicht nur die ökologischen Ziele: Herstellung von schadstoffarmen, stromsparenden High-Tech-Geräten, konsequentes Recycling für Elektronikschrott, Einsparen von Rohstoffen durch computergestützte Prozesse. Die Abgeordneten haben sich auch Gedanken über die sozialen Auswirkungen gemacht und darüber, wie die Regierung darauf reagieren sollte. Ganz oben steht die „Förderung von Medienkompetenz“. Denn die Informationsgesellschaft als Ausweg aus der ressourcenfressenden Industriegesellschaft zu preisen, ist so lange illusionär, wie Millionen Menschen mit der neuen Informationsflut nicht umgehen können. Um eine Spaltung in „Informationsarme“ und „Informationsreiche“ zu verhindern, soll in Bildung investiert werden und eine Grundversorgung mit Informationen gesichert werden. Nachhaltigkeit ist ohne eine soziale Weiterentwicklung nicht denkbar.
Die Kommission sieht ihren Bericht als Vorbereitung für eine nationale Umweltstrategie. Dafür wollten sich die Unterzeichnerstaaten der Agenda 21 von Rio bis zum Jahr 2002 einsetzen. Zwei Drittel der Industrieländer – darunter Großbritannien, Österreich, der Schweiz – und 60 Staaten der Dritten Welt haben eine solche Strategie bereits entworfen. Für Deutschland fehlt sie noch. „Mit diesem Bericht stehen wir wenigstens nicht ohne etwas dar“, sagt Marion Caspers-Merck. Tagesthema Seite 3,
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