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Ein neuer Schritt zur deutschen Einheit

■ Mit der rot-grünen Koalitionsvereinbarung zum Staatsangehörigkeitsrecht steht eine Reform an, deren Tragweite gestern vielen noch nicht recht klar war. In der türkischen Community ist von Euphorie nicht viel zu spüren. Ein Wandel in den Köpfen braucht mehr als eine Gesetzesänderung

Willkommen im neuen Deutschland. Acht Jahre nach dem deutsch-deutschen Zusammenschluß steht eine neue Vereinigung ins Haus. Mit der rot-grünen Koalitionsvereinbarung vom Mittwoch ist die Mauer des Staatsangehörigkeitsrechts, vor 85 Jahren errichtet, um Inländer und Ausländer sorgsam voneinander zu scheiden, durchlässiger geworden. Nach den neuen Regeln einer erleichterten Einbürgerung ist plötzlich der Weg frei: Die Millionen der Mehrheitsdeutschen und zumindest einige hunderttausend Ausländer werden bald zu einem Volk gehören. Doch während Ost- und Westdeutsche sich nach der Maueröffnung wenigstens vorübergehend in die Arme fielen, ist am ersten Tag der Multikulti-Republik Deutschland Begeisterung auf keiner der beiden Seiten so recht zu spüren.

Mahmut und Nuran Balli haben beide einen Einbürgerungsantrag laufen. Die Ehepartner aus Berlin, beide Mitte 20 und in Deutschland geboren, sind am Tag nach der Entscheidung vor allem zufrieden, daß ihnen die neue Regelung die doppelte Staatsangehörigkeit gestattet. Multikulturell werde ein Land jedoch nicht allein dadurch, daß die Menschen zwei Pässe besitzen dürften, meinen sie. „Ändern wird sich erst etwas ab der vierten Generation“, sagt Mahmut Balli. „Dann erst werden alle hier geborenen Kinder den deutschen Paß haben, und die Frage nach der Herkunft wird sich erübrigen.“

Ballis nüchterne Einschätzung wird von Kenan Kolat geteilt. „Eine Gesetzesänderung wird nicht von heute auf morgen die Gefühlswelt ändern“, sagt der Geschäftsführer des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg. Auch Fabre Adak, der Präsident der konservativen Türkischen Gemeinde in Berlin, gibt sich demonstrativ verhalten: „Wir sind ganz zufrieden.“ Auf deutscher Seite fallen die Stellungnahmen kaum euphorischer aus. Einen Kompromiß sieht zum Beispiel Brandenburgs Ausländerbeauftragte Almuth Berger in der geplanten Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts. „Ich bin aber zufrieden, daß damit überhaupt dieser wichtige erste Schritt getan wurde.“

Nach Jahrzehnten eines oftmals schwierigen und manchmal aggressiven Verhältnisses zwischen Inländern und Ausländern ist der fehlende Jubel kaum verwunderlich. Verblüffend ist höchstens, daß selbst jenen politischen Kräfte, die zum Teil seit zehn oder fünfzehn Jahren für die Reform gestritten haben, der Sinn für die Tragweite der Entscheidung abgeht: Deutschland wird auch offiziell Einwanderungsland. 127 Jahre nach der Gründung des ersten deutschen Staates 1871 hat die Politik sich von der Illusion eines ethnisch homogenen Deutschlands verabschiedet. Paradoxerweise scheint es, als würden nur die Gegner der Neuregelung die gesellschaftliche Veränderung erfassen, welche die rot-grüne Reform nach sich ziehen wird. Einen „fast revolutionären Veränderungsschritt“ nennt der CDU-Politiker und Verfassungsrechtler Rupert Scholz die Pläne. Daß Scholz als Konservativer von Revolutionen nichts hält und seinen Kommentar als Warnung verstanden wissen will, ändert nichts daran, daß die Einschätzung zutrifft.

Der Kreuzberger Gemüsehändler Hassan G. hat bislang nur den türkischen Paß. Die bürokratischen Hindernisse waren ihm bisher zu groß, obwohl sein Interesse an einer Einbürgerung groß sei. „Bisher sind wir in der Türkei Deutschländer und in Deutschland Ausländer“, sagt er. „Mit den zwei Pässen sind wir hier und da Menschen.“ „Danke Bonn“ titelte die türkische Tageszeitung Hürriyet in ihrer gestrigen Ausgabe. Vor allem die geplante Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft sei „ein sehr bedeutender Schritt“, denn damit finde die „heimliche türkische Staatsbürgerschaft“ ein Ende. Für TürkInnen war es auch unter der alten Regierung möglich, die deutsche Staatsbürgerschaft zu übernehmen, ohne die türkische wirklich abzugeben. Nur daß sie dies den deutschen Behörden gegenüber verheimlichen mußten.

Yusuf Örs verspricht sich von einem Wandel in den Köpfen die tiefgreifendste Auswirkung auf das Verhältnis von Deutschen und Türken. „Die bisherige Regierung hat uns ausgegrenzt“, sagt der 36jährige Berliner, „und die Äußerungen der Politiker sind schließlich Leitlinien für das Volk.“ Er setzt darauf, daß der positivere Umgang der künftigen Regierung mit der Integration auch die Stimmung in der Bevölkerung ändern werde. „Dies ist ein großer Tag für die Ausländer in Deutschland“, sagt Örs. Bedeutet die Reform auch für ihn konkrete Veränderungen? „Mein Lebensgefühl ist anders.“

Wie wird sich das neue Deutschland für seine Bürger anfühlen, die alteingesessenen wie die neu hinzukommenden? Die Frage der inneren Einheit, von der Politik meist nur auf Ost- und Westdeutsche bezogen, stellt sich mit der Reform dringlicher denn je auch für Altbürger und Neubürger. Der Leiter des Essener Zentrums für Türkeistudien, Faruk Sen, schlägt einen optimistischen Ton an. Die Reform biete den Zuwanderern die Chance, sich voll mit dem Land zu identifizieren, in dem sie lebten. Die Ausgrenzung sei beendet.

Wer interkulturelle Kommunikation in der Praxis erlebt hat, ist skeptischer. Martin Forweg arbeitet für den Verein Trainingsoffensive, wo er bundesdeutsche Normalbürger wie Polizisten, Schüler und Lehrer für den Alltag in einer multikulturellen Gesellschaft sensibilisiert. „Ein großes Aufatmen“ verspürt er über die Reform, das Gesetz passe sich endlich der Realität an. An den Schwierigkeiten, den Mißverständnissen und Konflikten, die eine multikulturelle Gesellschaft bereithält, könnten ein paar umgeschriebene Paragraphen alleine jedoch wenig ändern. „Damit ist der Rassismus keineswegs weg. Er ist kein Problem von Inländern und Ausländern mehr, sondern er verlagert sich in die Gesellschaft hinein.“

In die Gesellschaft hinein. Sowenig Euphorie die Reformpläne ausgelöst haben, sowenig Politikern wie Bürgern die Tragweite des Beschlusses schon vor Augen stehen mag, soviel ist klar: Seit Mittwoch sind die Probleme der „Ausländer“ deutsche Probleme. Patrik Schwarz, Songül Çetinkaya, Thomas Müller, Julia Naumann

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