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Generation Son

Her mit den alten Kubanern! Erst waren die Platten da, jetzt kommen die Filme: Die Kuba-Welle rollt und rollt und rollt... einem neuen Höhepunkt entgegen  ■ Von Daniel Bax

Agonie und Alltag. Kuba im 40. Jahr der Revolution und im achten Jahr der Ära des Mangels: Beständig wächst der Strom der Pauschalurlauber, die an den Stränden der Hotelenklaven nach Sonne und billigem Sex suchen, stetig größer wird aber auch der Treck jener Besucher, die der Kultur wegen kommen. Vor allem Musik gilt wieder, wie ehedem, als kubanisches Markenprodukt, das allein schon die Reise lohnt.

Das europäische Publikum feiert, schon eine ganze Weile, die Wiederkehr klassisch kubanischer Klänge. Weit entfernt von seinem Ursprung erlebt der Son, die Wiege aller kubanischen Rhythmen von Mambo bis Cha-Cha- Cha, seit zwei, drei Jahren seinen zweiten Frühling. Die ursprünglichen Interpreten nehmen neue Platten auf und gehen wieder auf große Tourneen, weltweit. In ihrer Heimat hatten sie praktisch keine Auftritte mehr, ihre Musik war nicht mehr gefragt. Doch das große Kuba-Comeback hat eine ganze Generation aus der Versenkung geholt.

Einer der ersten, die den wirtschaftlichen Umbruch auf der Insel als Chance begriffen hat, war der Spanier Manuel Dominguez. In Santiago, Provinzhauptstadt des östlichen Kuba, traf er jene Musiker, allesamt über siebzig, die er später als Vieja Trova Santiaguera unter Vertrag nahm – der Name verweist auf die kubanische Balladentradition der „Vieja Trova“, der sich die alten Troubadoure verpflichtet fühlen. Im Februar 1994 entstanden die Aufnahmen für das erste Album der Musiker, die zuvor als Mitglieder namhafter Formationen im Trova-Tempel der Stadt, dem Casa de la Trova, ihre Heimstatt hatten.

In einem alten Radiostudio wurde geprobt, Rum getrunken und das Repertoire ausgewählt, und es heißt, daß Manuel Dominguez seinen Schützlingen aus Santiago erst ausreden mußte, ausgelutschte Standards wie „Besame Mucho“ oder „Commandante Che Guevara“ zu singen. Lieber sollten sie sich an weniger bekannten Trova-Kompositionen versuchen. Mit diesem Programm lud Dominguez das Quintett nach Madrid, wo ihre Auftritte solch unerwartete Begeisterung entfachten, daß der Aufenthalt kurzerhand um mehrere Wochen verlängert werden mußte. Weitere Veröffentlichungen folgten, und Tourneen bereiteten den Boden für den einsetzenden Seniorenboom: Her mit den alten Kubanern!

Dann kam bekanntlich Ry Cooder. Eine Reihe handverlesener Musiker, die in den berühmtesten Bands, Gruppen und Orchestern Kubas gespielt hatten, betagte Männer allesamt und eigentlich längst in den wohlverdienten Ruhestand entschwunden, trafen sich im März 1996 unter seiner Ägide in Havanna. Dort entstanden – in zwei Wochen, die die Musikwelt bewegen sollten – drei Alben mit klassischem Son-Sound. „A Toda Cuba le Gusta“, das aufwendigste Stück der Trilogie, vereinte vier Generationen, Stars der 50er Jahre und junge Musiker, sowie ein halbes Dutzend der besten kubanischen Sänger in einem Orchester, das, als Afro Cuban All Stars, fortan den Rang als älteste Boygroup der Welt beanspruchen sollte.

Spektakulär mit einem Soloalbum reaktiviert wurde der Pianist Ruben Gonzales, der, an Athritis leidend, dem Klavierspiel schon abgeschworen hatte. „Buena Vista Social Club“, das Aushängeschild der Kollektion, verkaufte sich bis heute eine Million mal, gewann den Grammy-Musikpreis und fand den Weg in die Wohnzimmer selbst solcher Menschen, die eigentlich ganz andere Klänge bevorzugen. Spätestens mit dem „Buena Vista“-Erfolg setzte der große Run auf Kuba ein. Son-Kapellen tanzten auf allen Festivals, Plattenfirmen gingen auf Schatzsuche, und die Insel avancierte endgültig zum Eldorado für Journalisten, Filmemacher, Werbefotografen und Musikproduzenten.

Die erste Veröffentlichungsflut ist inzwischen abgeebbt, jetzt kehrt Kuba im Kino wieder: Wim Wenders wird dieser Tage seine Dokumentation über Ry Cooders „Buena Vista“-Projekt bei der Berlinale vorstellen und damit der Kuba- Welle sicherlich einen neuen Schub geben. Vor einigen Wochen bereits in Hamburg angelaufen und jetzt auch in anderen Städten zu sehen ist „Lagrimas Negras“, eine Hommage der holländischen Filmemacherin Sonia Herman Dolz an die alten Herren der Vieja Trova Santiaguera. Ihr Dokumentarfilm setzt dem Quintett ein kleines Denkmal in Zelluloid. In effektvollen Schnitten sieht man die Musiker bei Proben im privaten Kreis und Auftritten in ausverkauften Konzerthallen, mal patriotisch zum Grab von „Carlos“ Marx in London pilgern, mal bei der Morgengymnastik im Hotelbett. Sie zeigen vergilbte Fotos in die Kamera und plaudern ein wenig aus ihrem Leben, über die Liebe und die Frauen – so weit es die 75 Minuten des Films zulassen: Denn, wie der 85jährige Aristoteles Limonta sagt: „Wenn ich alles erzählen würde, was ich gemacht habe, würden wir noch morgen hier sitzen.“

In von mildem Abendlicht durchfluteten Bildern fängt der Film jene Atmosphäre zerfallender Schönheit und melancholischer Ruhe ein, die man als Bilderbuch-Kuba kennt und liebt. „Lagrimas Negras“ zeigt die Alten, die Hüter des Son, bei Schwof und tropischem Tanztee und die ganz Jungen, den möglichen Nachwuchs, in der Musikschule oder bei der spontanen Rumbasession auf der Straße. Die mittlere Generation – dem Son entfremdet? – bleibt außen vor.

Die Gerontophilie hat freilich guten Grund. Denn bessere Werbeträger für den Swing dieser altmodischen Musik als die fünf greisen Herzensbrecher lassen sich schwer finden. Wenn die Musiker den Guaracha-Son vom Gelähmten, den die Musik wieder laufen lehrte, inszenieren – „Laß Stock und Krücke fallen, du kannst zum Son tanzen“ – und dabei, charmant schauspielernd, ihr Becken kreisen lassen, dann braucht es keine weiteren Argumente für die Behauptung, der Son sei die beste Medizin. So zerfahren die gealterten Gigolos manchmal in ihren Hotelzimmern wirken, wenn sie bei der Anprobe in gestärkten weißen Hemden an ihrer Fliege nesteln, vergeblich ihre Krawatte suchen oder Schwierigkeiten mit Ferngesprächen haben – sobald sie die Bühne betreten, wirken sie einem Jungbrunnen entsprungen. Und die Poesie ihrer Musik färbt offenbar ab: „Ich sehe mehr mit den Pupillen meiner Seele als mit meinen Augen“, antwortet der Gitarrist Reinaldo Hierrezuello auf die Frage nach seinem Sehvermögen.

Stolz sind sie auf ihre Klassifikation als Musiker der Kategorie A, der höchsten Gehaltseinstufung im kubanischen Staat, auf den sie nichts kommen lassen: „Die einzige Regierung, die jemals etwas für den Son getan hat“, schwören sie, denn vor der Revolution mußten sie sich als Maurer, Bäcker oder Schreiner verdingen. Dabei ist es gerade der Zusammenbruch dieses Systems, der ihnen endlich internationale Aufmerksamkeit beschert. Paradox aber auch, daß kommerziell nun so erfolgreich ist, was nur in der Isolation überleben konnte. Im Windschatten der weltweiten Salsa-Mode blieb ein originär kubanischer Stil konserviert, den die Dollars, ohne die auf Kuba nichts mehr geht, jetzt aus dem Dornröschenschlaf holen. Kubas Musikindustrie, vor dem Goldrausch gänzlich in staatlichen Händen, hatte so ihre Eigenarten: Sie garantierte ein festes Einkommen, aber gewährte keine Tantiemen. Die Produktionsbedingungen waren nicht zuletzt wegen des US- Embargos schlecht, es mangelte an Mikrofonen, Instrumenten und manchmal sogar an Strom, zusätzlichen Ärger bereitete die undurchsichtige Verkaufs- und Veröffentlichungspolitik des staatlichen Plattenmonopolisten Egrem.

Exemplarisch der Fall jener Archivaufnahmen, die das Plattenlabel World Circuit kürzlich herausbrachte: Vor zwanzig Jahren stellte der Bandleader Juan Pablo Torres ein Dream Team der besten Musiker aus über zehn Bands zusammen, um eine für den Export bestimmte Platte aufzunehmen. Musiker aus drei Generationen nahmen an dieser Mega-Jam-Session teil. In Kuba selbst erschien die Aufnahme jedoch – ohne Informationen, Fotos und Credits – nur in geringer Auflage und war bald vergriffen, anderswo hinterließ sie etwas mehr Eindruck. Heute kündet „Estrellas de Areito“, die Neuauflage des verschollenen Albums, eindrücklich von den Improvisationskünsten dieser genialen Instrumentalisten.

In Kuba selbst wird die Platte allerdings weiterhin nicht zu haben sein, so wenig, wie dort „Buena Vista Social Club“ erhältlich ist. Seit Kubas Musiker 1994 die Freiheit bekamen, eigene Verträge zu unterschreiben, und im Ausland verdiente Devisen nicht mehr einkassiert werden, ist Musik ein Exportgut geworden. An der Mehrheit der Kubaner geht der Son-Boom in Europa weitgehend vorbei, ohnehin bevorzugt man dort Salsa oder, als letzten Schrei, heimischen HipHop.

Sicher hat die Anerkennung, die den alten Herren im Ausland begegnet, das Interesse im Inland erhöht, doch manchen jungen Musikern stößt auch auf, daß die alte Garde einfach so an ihnen vorbeizieht. Denn mögen sie auch nicht das ganz große Geld machen, so sind die Son-Veteranen doch gut dabei, ihre Rente aufzubessern. Das Erfolgsgespann der Vieja Trova Santiaguerea etwa wechselte, in leicht veränderter Besetzung, im letzten Jahr vom spanischen Standort zum Konkurrenten Virgin. „Buena Vista“-Gitarrist Compay Segundo, 92 Jahre, hat einen Exklusivvertrag bei einem Plattenmulti; sein im letzten Jahr erschienenes Soloalbum „Lo Mejor de la Vida“ wurde hierzulande von Pro7 beworben. Andere „Buena Vista“-Clubmitglieder wollen in diesem Jahr nachziehen: Soloalben des Sängers Ibrahim Ferrer und des Pianisten Ruben Gonzales sind bereits angekündigt, eventuell soll ein Livealbum der „Buena Vista“-Riege erscheinen. Die Klassikerwerdung ist in vollem Gange, das Son-Revival rollt und rollt und rollt. Und warum auch nicht? Solange im Radio die immergleichen Hits der 70er, 80er und 90er Jahre rotieren, sind die kubanischen Schlager der 40er, 50er und 60er Jahre eine angenehme Alternative.

Filme:

„Lagrimas Negras – Schwarze Tränen“. Regie: Sonia Herman Dolz, NL 1997, Span. OmU, 75 Min.

„Buena Vista Social Club“. Regie: Wim Wenders, D 1999, 101 Min.

Platten:

Vieja Trova Santiaguera: „Hotel Asturias“ (NubeNegra/Intution) Vieja Trova Santiaguera: „La Manigua“ (Virgin)

Estrellas De Areito: „Los Heroes“ (World Circuit/Eastwest)

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