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Das Amtsenthebungsverfahren gegen Bill Clinton, das gestern abend vor dem Abschluß stand, hat dem Präsidenten nichts anhaben können. Eines jedoch hat es ganz deutlich gezeigt: Die US-Verfassung, die alle ständig zu schützen vorgaben, ist zum bedeutungslosen Götzenbild verkommen. Und: Das Land gedeiht auch ohne Politik ganz prächtig. Schweren Schaden haben sich dafür jene zugefügt, die den Präsidenten stürzen wollten. Den Republikanern wird auf Jahre hinaus der Ruch einer Partei anhängen, der Gemeinhei vor Gemeinwohl geht Aus Washington Peter Tautfest

Der mißlungene Königsmord

Amerikaner reden von ihrer Verfassung wie von einer heiligen Schrift, und die Verfassungsväter sind wie die mythisch entrückten Gestalten einer weltlichen Bibel, wie die Evangelisten einer Verfassungsreligion. Madison oder Hamilton zu zitieren ist so, als würden Katholiken den heiligen Augustinus oder Marxisten den alten Karl anrufen. In Washington ist in den 13 Monaten des Amtsenthebungsverfahrens gegen Bill Clinton, das gestern abend vor dem Abschluß stand, viel über „Volk“ und „Verfassung“ geredet worden. Ersteres hatte dabei kaum etwas zu sagen, und letzteres verkam, je lauter darüber geredet wurde, zum bedeutungslosen Götzenbild, dem alle Anrufung keinen Segen und keine Überzeugungskraft mehr entlocken konnte.

„Außer der Bibel ist mir keine Schrift so heilig wie die Verfassung“, deklamierte der Ex-Senator aus Arkansas, Dale Bumpers, in seiner großen Rede zur Verteidigung Bill Clintons. Die Verfassung beschworen auch Clintons Gegner. Vom Anblick einer Schar fliegender Gänse sprach der Abgeordnete Bill McCollum, der die Anklage gegen Clinton vertrat. Als er über den Potomac nach Washington hinein zum Capitol fuhr, seien sie aufgeflogen, erzählte er den Senatoren. Ihr majestätischer Anblick habe ihn an die Erhabenheit dieses verfassungsmäßigen Prozesses gegen den Präsidenten erinnert, in dem sie nun alle Akteure seien.

Die Verfassung zu beschützen waren beide Seiten angetreten. Der Rechtsstaat sei in Gefahr, wenn der oberste Exekutor der Gesetze des Landes Justitia in ihrem Lauf hemmt, und die Verfassung habe just für derartige Verfehlungen dieses Amtsenthebungsverfahren geschaffen. Nein, das Impeachment sei für Verbrechen gegen den Staat reserviert, argumentierte die Gegenseite, seine Anwendung auf ein Kavaliersdelikt wie das Schwindeln über eine Liebschaft komme einer Unterminierung der Verfassung gleich.

Keiner der Akteure kam auf den Gedanken, daß eine Verfassung, die diesem kleinlichen Machtkampf die Staffage des großen Staatstheaters verlieh, sich überlebt hatte. Das ganze Brimborium des Impeachment-Verfahrens wirkte wie das Zelebrieren eines Rituals aus vergangener Zeit. Vor jeder Sitzung erschallte der plärrende Ruf des „Sergent at Arms“: „Höret, höret, höret, bei Androhung von Kerkerstrafe hat bei dieser Verhandlung jedermann zu schweigen.“ Aus dem volksnahen Bill Clinton wurde in der hochtrabenden Rhetorik dieses Schauspiels der Angeklagte „William Jefferson Clinton“, als würde er durch dieses Verfahren zum Lord geadelt.

Selten wurden die royalistischen Wurzeln der US-Verfassung so deutlich wie in diesem Verfahren. Interessanterweise fand der letzte britische Impeachment-Prozeß just zu der Zeit statt, als Amerikas Verfassungsautoren sich den Kopf darüber zerbrachen, wie sie ihren Präsidenten stürzen könnten, wenn er je übermächtig werden sollte. In England ging mit dem Impeachment ein weiteres Stück der absoluten Monarchie dahin, weil das Parlament entdeckt hatte, daß es wirkungsvollere Mittel gab, die Exekutive zu kontrollieren. In den USA aber überlebte dieser höfische Zopf, und an dessen Haaren herbeigezogen kam die Theatermaske einer Verfassung zum Vorschein, die nie wieder sein wird, was sie mal war. Das Impeachment wird auf die Institutionen der USA die gleiche Wirkung haben wie Dianas Tod auf die britische Monarchie.

„Was immer sonst man von meiner Präsidentschaft sagen wird, ich habe die Ehre des Amtes hochgehalten“, sagte George Bush, als er 1993 aus dem Präsidentenamt schied. Diese Äußerung war natürlich auf Bill Clinton gemünzt, der als Parvenu mit schlechten Manieren und dem Ruf eines Schürzenjägers aus der Provinz an Washingtons Hof kam. Es klang in Bushs Beteuerung aber schon das Wissen darum an, daß die Glorie des Weißen Hauses spätestens mit dem Kalten Krieg zu Ende gegangen war. Seit Roosevelt und Johnson ist kein Präsident mehr mit kühnen Visionen oder einem großen Vorhaben angetreten. Doch, ja, Clinton wollte eine allgemeine Krankenversicherung einführen – etwas, was Bismarck im 19. Jahrhundert schon geschaffen hatte, was für hiesige Verhältnisse aber einer Revolution gleichgekommen wäre. Der Reformversuch scheiterte gründlich.

Präsidenten haben in den USA schon seit einiger Zeit so gut wie nichts zu sagen, und was sie durchsetzen können, ist wenig genug. Daran ist nicht Bill Clinton schuld, aber auf ihn schien das säkularisierte und auf Menschenmaß zurückgestutzte Amt so gut zu passen, daß er es heruntergebracht zu haben schien. Und die Wut über den erloschenen Glanz des einst so großen Hofs motivierte den Haß gegen den Provinzgouverneur.

Der Kongreß ist auch nicht besser gefahren als das Weiße Haus. Während Präsident und Parlament im Clinch miteinander lagen und sich gesetzgeberisch so gut wie nichts abspielte – in der letzten Legislaturperiode wurde weder die kleine Krankenkassenreform verabschiedet noch eine Reform der Wahlkampffinanzierung durchgesetzt, nicht mal das von Gerichtsentscheidungen schon vorbereitete Tabakgesetz kam durch –, gedieh das Land auch ohne Politik ganz prächtig. Die Arbeitslosigkeit sank auf ein Rekordtief, das Haushaltsdefizit bereinigte sich durch eine Geldschwemme aus Steuereinnahmen so gut wie von alleine.

Das Land kommt offensichtlich auch ohne Washington aus, ja die Tatsache, daß Washington trotz des Desinteresses im Lande dieses Impeachment-Theater nicht absetzte, zeugt von der Überflüssigkeit der politischen Klasse und der Überlebtheit der institutionellen Bühne, auf der es gegeben wurde. Erst dieser Tage wurden die endgültigen Zahlen über die Wahlbeteiligung von 1996 veröffentlicht. Trotz des Zuwachses registrierter Wähler um runde fünf Millionen sank die Beteiligung an der letzten Wahl auf den tiefsten Stand in 56 Jahren. Ganze 36 Prozent der Wahlberechtigten gingen zur Urne. Gründlicher können Bürger die Abkehr von ihren Vertretern und Institutionen kaum demonstrieren.

Dabei waren die Amerikaner mit dem glanzlos gewordenen Weißen Haus – in dem Clinton mehr als der Gouverneur Amerikas denn als Präsident regierte – immerhin zufriedener als mit dem Parlament. Das Ansehen des Kongresses, unter dessen imposanter Kuppel das Impeachment-Spiel seinen Lauf nahm, sank auf einen Tiefpunkt. Und die bisher hochangesehene US-Justiz, verkörpert durch das Oberste Gericht, hat sich in Gestalt des Obersten Richters William Rehnquist, der mit den vier auf seiner Robe aufgenähten goldenen Streifen wie eine Schießbudenfigur hoch oben über dem Senatssaal thronte, gründlich lächerlich gemacht.

Der Schaden, den dieser ganze Zirkus der Demokratie zugefügt hat, ist nicht nur geschichtsphilosophischer Art. Das ungehinderte Walten eines Großinquisitors in Gestalt des Sonderermittlers Kenneth Starr hat für selbstverständlich gehaltene Rechte zerstört. Es ist jetzt durch Präzedenzfall abgesegnete Rechtspraxis, daß Frauen und Männer über ihr Sexualleben Auskunft geben müssen; daß eine Mutter gezwungen werden kann, gegen ihre Tochter auszusagen; daß Buchhandlungen aufgefordert werden können, Auskunft darüber zu geben, welche Bücher Kunden gekauft haben; daß Anwälte, so sie und ihre Klienten beide vom Staat bezahlt werden, sich nicht mehr auf das Anwaltsgeheimnis berufen können; daß die Ratgeber des Präsidenten nicht mehr freimütig beraten können – sie müssen künftig damit rechnen, vor ermittelnden Behörden aussagen zu müssen. Die Ära Starr wird als eine Zeit in Erinnerung bleiben, in der privates Telefongeflüster ebenso öffentlich ausgestrahlt werden konnte, wie erzwungene Geständnisse über intime Sexualkontakte im Fernsehen zu sehen waren.

Den schwersten Schaden aber haben sich jene zugefügt, die den Präsidenten stürzen wollten. Machiavelli lehrte, daß wer den Fürsten töten will, ihn gut treffen muß, soll er nicht selbst vernichtet werden. Die Republikanische Partei Amerikas, die 1994 zur führenden Kraft im Lande geworden zu sein schien – sie beherrschte nicht nur das Bundesparlament, sondern auch die Gouverneurssitze und Staatsparlamente in einer Mehrheit der Bundesstaaten –, erlebt ein Desaster. Ihr wird auf Jahre das Odium des mißlungenen Königsmordes anhängen, der Ruch einer Partei, der Gemeinheit vor Gemeinwohl geht.

Wenn es denn einen Lichtblick in diesem traurigen Epilog gibt, dann dies: Die Ära großer Programme und großer Präsidenten ist zwar zu Ende, doch ganz überflüssig ist die Regierung noch nicht. Clinton hat durch die Umwandlung des Präsidentenamts in ein Gouverneursamt und durch seine minimalistischen Vorschläge vorgemacht, daß Politik auch für den Alltag relevant sein kann. Sollte es den USA gelingen, ihre archaischen Institutionen zu reformieren, könnte vielleicht wieder Politik gemacht werden.

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