: Ein schlechter Tag für Robbie Williams
■ Leben und Kicken, bedingt diskursfähig: Die Rockband Suede in der Columbiahalle
Brett Anderson hat noch nicht einmal den Mund aufgemacht, da hat er schon den ersten Mikrofonständer kaputtgetreten.
Erste These: Rock lebt.
Brett Anderson ist eigentlich kein echter Rocker. Brett Anderson ist melancholisch und bisexuell und voll diskurstauglich. Gendermäßig. Dachte man immer. Brett Anderson singt: „I feel real now walking like a woman and talking like a stone age man.“ Dann kickt er die eine Flasche ins Publikum, fasst sich in den Schritt und macht für eine Stunde und 25 Minuten den Steinzeitmenschen.
Zweite These: Brett Anderson ist nicht Jarvis Cocker. Er hat noch nicht einmal dieselben Initialen.
Head Music ist ein Album für alle. Man kann beim Hören von einem Leben jenseits der Vorstädte und von einer Karriere als Model träumen (Mädchen), und man kann dazu Bier trinken (Jungs). In Großbritannien haben sich in den letzten Jahren verschiedenfarbige alkoholhaltige Limonadengetränke auf dem Markt durchgesetzt. Die schmecken den Mädchen besser als Bier und machen trotzdem schön betrunken. Auch in der Columbiahalle gibt es diese lustigen Fizzy Drinks, aber niemand trinkt sie. Die Jungs natürlich sowieso nicht. Die Mädchen lehnen am liebsten gelangweilt an einer Wand. Manche sehen so aus, also ob sie sich darüber ärgerten, dass sie ihre Zahnpflegekaugummis zu Hause vergessen haben. Andere dagegen machen den Eindruck, als würden sie sich vor Langeweile am liebsten ordentlich mit Fizzy Drinks voll laufen lassen, aber leider am nächsten Tag in der Berufschule ein Referat halten müssen. Da muss man ausgeschlafen sein. Für das Konzert auf jeden Fall scheint sich niemand so richtig zu interessieren. Erst als Brett Anderson (still alive and kicking) nach einer Stunde und 20 Minuten das letzte Lied für diesen Abend ankündigt, schmeißt ein Mädchen aus der ersten Reihe einen BH auf die Bühne. Der BH ist blau und kostet bei H&M 24 Mark und 90.
Dritte These: Begeisterung is over.
Brett Anderson trägt eine Cordjeans, ein weißes Muskelshirt, und seine Haare sehen aus wie die von Robbie Williams, nachdem er einen schlechten Tag gehabt hat. Brett Anderson sells heart, Brett Andersons sells meat, und im Gegensatz zum Publikum hat er jede Menge Spaß. Er sagt: „We fucking love it.“ Und am liebsten wäre es ihm, wenn man jeden Refrain mitsingen würde. Aber das macht nur ein junger Mann mit schwarz gefärbten Haaren. Er singt sogar jedes Wort mit. Er hat ein schmales Gesicht, einen schmalen Oberkörper, und seine Jeans hängt richtig lässig auf den ebenso schmalen Hüften. Er bewegt sich wie eine Frau, und er sieht genauso aus wie Brett Anderson im Booklet des ersten Suede-Albums. Die letzte der beiden Zugaben ist „Saturday Night“. Brett Anderson singt diese eine Zeile: „It'll be alright and ever so nice.“ Der junge Mann mit den schwarz gefärbten Haaren ist nicht mehr zu sehen. Stellen wir uns vor, dass er draußen vor der Halle steht, im kalten Wind der letzten Novembernacht, und weint. Später, zu Hause vor dem Spiegel, wird er dann sehen, dass sein Lidstrich verschmiert ist.
Vierte und letzte These: Auf jedem noch so schlechten Rockkonzert gibt es einen oder zwei Momente, in denen man nicht mehr über das Rockkonzert nachdenkt. Schöne Momente. And ever so nice. Kolja Mensing
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