: Ende einer Busfahrt
Der Niedergang der Musical-Industrie ist unaufhaltbar: Immer weniger Leute wollen sich pauschal für geklonte Shows herankarren lassen. Wer große Gefühle will, geht heute gleich in die Oper ■ Von Ralph Bollmann
Um starke Worte war die Branche nie verlegen. „Mindestens fünf weitere Musicals“ könne der hauptstädtische Markt locker verkraften, schwärmte einst der Berliner Musikunternehmer Friedrich Kurz. Sein Kollege Peter Schwenkow plante im Schiller Theater, der still gelegten Westberliner Staatsbühne, „Historicals“ aus der Hauptstadtgeschichte. Und der Mannheimer Musical-Mogul Wolfgang Boksch wollte am selben Ort „Produktionen entstehen lassen, die in Deutschland noch nicht zu sehen waren“.
Den großen Plänen, die das Trio infernale der Berliner Kommerzkunst unters Volk brachte, ist nur eines gemeinsam: Die Berliner wollten davon nichts wissen. Mangels Nachfrage senkte sich der Vorhang über den mediokren Shows, kaum dass sie aus dem Boden gestampft waren.
Jetzt hat es erneut den Branchenriesen Stella erwischt. Der Konzern, der mit seinen Hamburger „Cats“ 1986 ins Geschäft eingestiegen war und erst vor Jahresfrist von den Banken ein hartes Sanierungsprogramm verordnet bekam, hat am vergangenen Wochenende ein Insolvenzverfahren beantragt. Das Unternehmen beschwichtigt: Alle Stücke operierten in der Gewinnzone, an Berlins Potsdamer Platz liege die Auslastung des gerade gestarteten „Glöckner von Notre Dame“ bei 88 Prozent, die Gehälter seien für die nächsten drei Monate gesichert.
Auch wenn die neuen Manager vor allem die waghalsigen Kalkulationen des Firmengründers Rolf Deyle für die Misere verantwortlich machen – eines steht fest: Das Publikum hat sich an den seichten Schmonzetten offenbar satt gesehen. Während die Besucherzahlen der subventionierten Stadt- und Staatstheater leicht steigen, ist der ohnehin weit kleinere Ansturm auf die privaten Musicals längst rückläufig.
Die Häme des Feuilletons ist den Protagonisten der Kommerzkultur sicher – auch wenn die meisten Verfechter der Hochkultur noch nie einen der Musical-Paläste von innen gesehen haben.
Doch an den Maßstäben herkömmlicher Kritik lassen sich die geklonten Shows nicht messen. Die Bühne ist im Spiel mit den Millionen nur ein Nebenschauplatz. Worauf es ankommt, ist die Vermarktungsmaschine – von den Busunternehmen, die das Publikum bis aus der bayerischen Provinz heranschaffen, bis zu den unverzichtbaren Shopping-Malls im Umfeld der eilig auf der grünen Wiese hochgezogenen Musical-Häuser. Aber auch bei den Preisen können die Musicals mit der staatlich subventionierten Hochkultur nicht konkurrieren. Rund 100 bis 200 Mark muss der Besucher etwa für den Berliner „Glöckner“ berappen. Hinzu kommen Fahrt, Übernachtung, Essen und Einkäufe. Obendrein rentieren sich die Häuser nur, wenn sie ein- und dasselbe Musical rund fünf Jahre lang spielen.
Bei einem Haus wie in Berlin, mit 2.000 Plätzen und acht Vorstellungen pro Woche, bedeutet das: Vier Millionen Besucher müssten den „Glöckner“ sehen – mehr, als Berlin überhaupt Einwohner hat.
Das funktioniert nur, wenn das Publikum das Musical als absolut einmaliges „Event“ begreift, als gesellschaftliche Pflichtvorstellung, die Geld und Mühen lohnt. Doch dieses Konstrukt haben die Betreiber selbst zerstört: Haben sie erst an jedem größeren Autobahnkreuz einen solchen Vergnügungsschuppen hochgezogen, ist dem Publikum das Besondere dieses Ereignisses nicht mehr zu vermitteln.
Die Musicals entlarven sich als das, was sie sind: beliebig reproduzierbare Fertigprodukte. Für derlei Gerichte aus der musikalischen Mikrowelle aber unternimmt niemand mehr eigens eine Reise. Die Veranstalter können ihre Karten nur noch an Touristen absetzen, die aus anderen Gründen angereist sind. Das aber setzt attraktive Standorte in den Innenstädten voraus, nicht sterile Häuser auf der grünen Wiese.
Kein Wunder, dass der Krise zuerst die Häuser an der Autobahn erwischte: Bereits 1996 schloss das Rockmusical „Tommy“ in Offenbach nach nur 14 Monaten seine Pforten – das Fanal für den Niedergang der ganzen Branche. Denn für den Erfolg des Produkts Musical ist nichts so wichtig wie das Image. Entsteht beim Publikum erst der Eindruck, die Branche sei im Niedergang begriffen, vollzieht sich der weitere Abstieg wie von selbst. Schließlich unterscheidet sich der Musical-Konsument vom Adressaten elitärer Minderheitenkultur vor allem dadurch, dass er gerne mit der Mehrheit schwimmt und den Trend auf seiner Seite hat. Kein Wunder also auch, dass die Branche nicht gern darüber redet, wie viele Eintrittskarten sie wirklich zum vollen Preis verkauft.
Weitere Schließungen folgten: 1997 verwandelt sich die Spielstätte für „Sunset Boulevard“, lieblos an eine Autobahnabfahrt in der Nähe von Wiesbaden geklatscht, in eine Investruine. Und bei Stella selbst schob Sanierer Hemjö Klein, einst Manager bei Lufthansa, die Duisburger „Miserables“ und den Essener „Joseph“ aufs Abstellgleis.
Aber auch in der Innenstadt lassen sich die kalkulierten Kartenpreise nicht mehr erzielen, wenn nur noch Laufkundschaft ins Musical-Theater strömt. Nur mit verbilligten Pauschalpaketen für Schulklassen oder Betriebsausflüge halten die Betreiber die Auslastungszahlen im grünen Bereich. Ob der Berliner „Glöckner“ im nächsten Frühjahr noch spielt, ist daher ungewiss.
Die Musicals können jenes Bedürfnis nach live erlebter Unterhaltung, dem sie in der Fernsehgesellschaft scheinbar entsprachen, nicht wirklich befriedigen: die Stücke aus England oder Amerika eingekauft, die Stimmen elektronisch verstärkt und von der Konserve begleitet, das Ganze von schnell verschlissenen Sängern allabendlich wiederholt.
Der anspruchsvollere Teil des Publikums hat längst der scheinbar antiquierten Kunstform der Oper, aber auch intelligent dargebotenen Operetten eine Renaissance verschafft. Dem platten Disney-Realismus der meistens privat produzierten Musicals setzt das traditionelle Musiktheater eine bewusste Künstlichkeit entgegen, die den Bedürfnissen des Multimedia-Zeitalters entspricht: große Gefühle statt blasser Sentimentalitäten. Es löst dabei den Anspruch allabendlicher Einmaligkeit, den die Musicals nur erheben, tatsächlich ein.
Doch auch bei den Musicals selbst haben die subventionierten Staatsbühnen dazugelernt – und stellen längst die intelligenteren Produktionen auf die Bühne, kurze Wege und niedrige Eintrittspreise inklusive. Solche Produktionen freilich passen nur ins Repertoiresystem der Stadttheater, sie lassen sich mangels Massenzuspruch nicht über Jahre hinweg allabendlich abnudeln. „Es gibt keine Unterhaltungskunst“, erkannte der Berliner Kulturenator Peter Radunski, „es sei denn, der Staat unterstützt sie.“
Jener Teil des Publikums aber, der den Weg in die traditionellen Kulturstätten nicht findet, bleibt womöglich ganz weg – und kehrt vor den Fernseher zurück. Auf keinem anderen Feld ist die Segmentierung der Gesellschaft so weit fortgeschritten wie auf dem Gebiet der Kultur. Neben einer immer größer werdenden, immer gebildeteren Schicht, die längst an die Stätten staatlich subventionierter Repräsentationskultur zurückgekehrt ist, stehen kulturferne Bevölkerungsschichten, die 100 oder 200 Mark für einen Musical-Besuch immer weniger aufbringen können oder wollen. Mit der egalitären westdeutschen Angestelltengesellschaft stirbt auch der Boom der Musical-Paläste.
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