: Gebaute Gemeinschaft
Bedarf nach überindividueller Identität: Wie sich das Erbe ostdeutscher Baukultur aktivieren lässt. Letzter Teil der Serie „DDR-Architektur“ ■ Von Hans Wolfgang Hoffmann
Auf offener Straße gleicht die Begegnung einem Rempler: Die fremde Gestalt, die ihn auslöste, trägt ein grob kariertes Kleid, das offensichtlich schon bessere Tage gesehen hat und suggeriert, dass innere Werte gar nicht vorhanden sind. Was ein Rendezvous hätte werden können, endet so mit einem Kopfschütteln: DDR-Architektur eben.
Die Aneignung ihres Erbes wird vor allem von mangelndem Verständnis verhindert. Die Redundanz ihres Rasters macht es in der Tat schwer, sie als Ausdruck einer Kultur zu sehen. Tatsächlich gab es in der DDR kaum Architekten, welche der Gestalt des Gebauten den Rang von Baukunst hätten geben können, stattdessen aber ein Heer von Bauingenieuren, deren Fähigkeiten sich naturgemäß aufs Produzieren konzentrierten. Das Gros der Republik bestand nicht aus individuellen Gebäuden, sondern wurde aus einem Elementkatalog zusammengezimmert, der nur wenige hundert Teile umfasste. Nicht zuletzt weil das Wohnungsbauprogramm, das 1973 auf Geheiß des gerade an die Macht gekommenen Vorsitzenden Erich Honecker vom ZK der SED verabschiedet wurde, zur Lösung der Wohnungsfrage nur Mengen- und Zeitvorgaben machte, erscheint DDR-Architektur als bloßes Produkt von Politbürobeschlüssen.
Der Luxus einer eigenen DDR-Architekturtheorie
Wäre das freilich die ganze Wahrheit, hätte man sich eines nicht leisten müssen: den Luxus einer eigenen Architekturtheorie. Eine solche war tatsächlich lange vor besagtem Wohnungsprogramm von Akademikern wie Fred Staufenbiel und Bruno Flierl entwickelt worden. Einer ihrer Kernsätze stammte von dem Gesellschaftswissenschaftler Lothar Kühne. 1964 definierte er Architektur als die „räumliche Organisationsform gesellschaftlicher Praxis“. Damit war klar: Nicht der Einzelne war wichtig. Das Bauen hatte gerade keine autonomen Werke zu kreieren. Das Anliegen der Architektur war vielmehr eine Umwelt, die das Gemeinsame aller Menschen betonte.
Die gebaute Gemeinschaft war zuerst eine Gemeinschaft der Planenden. Ihre Wirkweise erschließt sich am besten im Vergleich der Türme von Paris und Berlin. Den Pariser Eiffelturm duldete die Seinestadt zunächst nur als temporäres Bauwerk. Funktional war es nicht mehr als das Markenzeichen der Weltausstellung von 1889. Insgesamt war es derart vom Konstruktionskünstler Gustave Eiffel dominiert, dass es schließlich seinen Namen bekam. Der Berliner Turm konnte dagegen nicht nach seinem Erbauer benannt werden: Der Formvorschlag kam 1959 von dem zu diesem Zeitpunkt schon geschassten Chefarchitekten von Berlin, Hermann Henselmann. Den Funktionsentwurf für einen Fernsehturm lieferten die Industrieprojektanten Günter Franke, Günter Kohlmann und Klaus Thimm zwei Jahre später für einen nicht näher bestimmten Ort. Zur Entscheidung, aus schlichter Fernmeldetechnik den Höhepunkt des Stadtzentrums zu machen, kam es dann 1964 auf Betreiben des für Architekturpolitik zuständigen ZK-Mitglieds und Präsidenten der Bauakademie Gerhard Kosel. Wieder andere fanden den genauen Standpunkt. Schaut man schließlich in die zeitgenössische Presse, war das Werk vor allem eines der Bauarbeiter. Erst nach dem Ende der DDR ergingen sich alle Beteiligten in einem erbitterten Rechtsstreit um die Urheberschaft. Damals war es freilich normal, dass alle gemeinschaftlich entwarfen und über Jahrzehnte auf die Ideen des anderen aufbauten.
Was der kleine Planausschnitt Fernsehturm beispielhaft belegt, erfasste die ganze Gesellschaft. Die Idee der Gemeinschaft verwandelte das ganze Land in ein bis ins Kleinste durchkoordiniertes Gebilde. Sie erhob selbst banalste Bauakte in den Rang höchst öffentlicher Ereignisse. Wie an der Karl-Marx-Allee dienten Warenhäuser nicht mehr als Schaufenster für die Waren, sondern für das Volk. Parlamente wurden wie der Palast der Republik zu Vergnügungsparks. Der öffentliche Grund und Boden wurde ausgedehnt, bis es keinen anderen mehr gab. Rund um den Fernsehturm war der Anspruch der Gemeinschaft so universal, dass der Raum ohne Namen auskam und von jeder Funktion befreit nur noch als Weihestätte der Gemeinschaft diente.
Doch die Idee der gebauten Gemeinschaft geht gleichwohl auf: Bis heute identifizieren sich die Nutzer mit ihren Bauten, die für Außenstehende nur hässlich daherkommen. Und das, obwohl sie an ihrem Zustandekommen keinen Anteil hatten.
Ein ähnliches Paradox erleben wir heute in der westlichen Individual-Gesellschaft, in der es die Idee der Gemeinschaft naturgemäß ungleich schwerer hat. Das übergeordnete Gemeinwohl zu verteidigen wird an den Staat delegiert, der sich freilich wie die Individuen, die er repräsentiert, als unfähig erweist, mehr als sich selbst zu verwirklichen. Den gebauten Beweis dafür liefert gerade das Hauptstadtprojekt: Mustergültig ist dem Staat in Berlin die Selbstdarstellung gelungen, während die Orte, in denen sich das Volk versammeln und artikulieren soll – das Bürgerforum im Spreebogen oder der ehemalige Schlossbezirk auf der Spreeinsel – einer Kultivierung harren.
Freilich offenbart gerade die Debatte um dieses Areal, dass auch in der westlichen Gesellschaft Bedarf nach überindividueller Identität existiert. Folgerichtig haben sich andere daran gemacht, ihn zu befriedigen. Das beste Beispiel dafür ist der Potsdamer Platz, dessen Erfolg weder mit der Qualität seiner Architektur noch seines Serviceangebots zu erklären ist, wohl aber mit seiner intensiven Vermarktung als „neues Zentrum Berlins“. Der vordergründige Unterschied zur DDR, in der Gemeinschaft eine staatliche Veranstaltung war, ist, dass dieses Gut hier kommerzialisierbar wird. Städtische Identität wird am Potsdamer Platz zur reinen Dienstleistung. Sie erfordert nicht nur keine aktive Teilnahme, wie noch in der DDR, sondern erlaubt sie gar nicht erst. Bürgerschaftliche Verantwortung ist von vornherein verbaut.
Sie ist freilich der Schlüsselbegriff, nicht nur um die Vorteile der individuellen und der kollektiven Gesellschaft zu vereinen, sondern auch um die Defizite an Bindungskraft zu beseitigen, die sich etwa in Berlin als Stadtflucht offenbaren. Dafür müsste aus der kapitalistischen Stadt der Konsumenten und der kommunistischen Stadt der Versorgungsempfänger eine Stadt der Aktionäre werden. Für diesen Schritt stellt das architektonische Erbe der DDR ein ungleich größeres Kapital dar als das der BRD. Nicht nur weil hier das Gebaute das Gemeinschaftliche durch seine Gestalt und seine Besitzverhältnisse bereits enthält, sondern auch weil für seine Privatisierung – anders als für die Vergemeinschaftung des Privaten – bereits Modelle vorliegen.
Beginnen wir beim Bestand. Bei den zentralen Freiräumen ist immerhin der Wert erkannt. Wie sie formal weiterzuentwickeln sind, um ihre identätsstiftende Wirkung zu steigern, dafür hat die Senatsbauverwaltung im Juli dieses Jahres einen Vorschlag vorgelegt. Rund um den Berliner Fernsehturm soll nach den Vorstellungen des Architekten Sawade sowie der Gartengestalter Müller/Wehberg eine Art Alster am Alex entstehen. Damit existiert erstmals seit der Wende ein offizieller Entwurf, welcher der Bedeutung des Ortes gerecht wird. Zu fragen bleibt freilich, ob das riesige Bassin wirklich die Nutzung ist, welche die Aneignung durch die Bürger am besten ermöglicht.
Verantwortung der Stadtbürger aktivieren
Für die in städtischem Eigentum befindlichen Immobilien ist deren Mobilisierung beschlossen. Die Privatisierung von Wohnungen und Bauland könnte eine Verantwortungsgemeinschaft der Stadtbürgerschaft aktivieren, sofern sie an die Nutzer erfolgt. Um deren Kapitalschwäche zu kompensieren, existieren Modelle wie eigentumsorientierte Genossenschaften oder eine „Bürgerstadt Berlin AG“, wie sie Winfried Hammann im Februar 1998 vorschlug. Solche Immobilienfonds, deren Anteile mit einem Nutzungsrecht verbunden sind, haben sich auf dem Markt von Ferienwohnungen bereits bewährt. In Berlin scheitern solche Verfahren freilich noch an den Vorgaben der Finanzsenatorin, die Privatisierung lediglich für die Haushaltssanierung instrumentalisiert.
Während sich Berlin noch an der Aktivierung des Bestandes an gebauter Gemeinschaft abarbeitet, wurde andernorts in Ostdeutschland bereits der Schritt zur bauenden Gemeinschaft gegangen. Das prominenteste Beispiel dafür ist der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche, dessen identitätsstiftende Wirkung letztlich weniger von der historischen Bauform ausgehen dürfte als von seiner Finanzierung über Spenden. Ungleich tiefere Bedeutung erreichte ein Projekt der Universität Cottbus. Die beiden neuen Glaspavillons, welche die Montagearchitektur der Bauschule aus den 70er-Jahren ergänzen, verbinden nicht nur formal westliche Entwurfskunst mit östlicher Baupraxis. Entscheidender ist, dass die Architekturstudenten ihre Zeichensäle sowohl selbst planten wie bauten. Die östlichste Hochschulstadt der Republik setzte damit ein Fanal, wie das architektonische Erbe der DDR aktiviert und die Verantwortungsgemeinschaft des vereinten Deutschland aussehen könnte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen