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Jobcenter blicken nicht durch

Beim Sozialgericht gehen so viele Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide ein wie nie. In 40 Prozent der Fälle haben die Betroffenen Erfolg. Die Dunkelziffer falscher Bescheide sei viel höher, so die Initiativen

von WALTRAUD SCHWAB

Die Zahl der Klagen und Eilanträge von Sozialhilfe- oder Arbeitslosengeld-II-EmpfängerInnen gegen Bescheide der Hartz-IV-Behörden steigt ungebremst. Im Januar 2007 gingen 1.179 neue Klagen beim Sozialgericht in der Invalidenstraße ein. Im Vergleichsmonat des Vorjahres waren es nur 784 Fälle – eine Zunahme um 50 Prozent. Damit bestätigt sich ein Trend aus dem Vorjahr: Noch nie sind beim Berliner Sozialgericht so viele Klagen eingegangen wie 2006. Insgesamt waren es über 26.000 Verfahren. Fast jede zweite betraf Hartz IV.

Wer gegen seinen Hartz-IV-Bescheid klagt, hat gute Aussichten, recht zu bekommen. Denn in ungefähr 40 Prozent der Hartz-IV-Verfahren des letzten Jahres erzielten die KlägerInnen und AntragstellerInnen Erfolge oder Teilerfolge in Form von Vergleichen, wie Michael Kanert, Pressesprecher des Sozialgerichts, erklärt. Bei jedem fünften anhängigen Verfahren musste die Hartz-IV-Behörde anerkennen, dass sie etwas falsch gemacht hat und die Klage deshalb zu Recht eingereicht wurde.

Die Fehler der Behörde sind vielfältig: „Es gibt alle Spielarten“, sagt Kanert. Dazu gehören rechtswidrige Untätigkeit der Behörde oder formale Fehler. Etwa komme es vor, dass Sanktionsbescheide mit einfacher Post geschickt werden. Wenn der Empfänger den Empfang bestreitet, trägt die Behörde die Beweislast. Kann sie den Zugang nicht beweisen, ist er nicht wirksam. Im Verfahren, so Kanert, werde dann nicht mehr geprüft, ob die Leistungskürzung gerechtfertigt ist. Der Sache nach möge das Jobcenter sogar recht haben, sagt Kanert. „Wir als Gericht haben zu prüfen, ob der Bescheid allen gesetzlichen Regeln entspricht. Wir können nicht eine Regel weniger ernst nehmen als eine andere.“

Aus Sicht des Sozialgerichts ist es ein Erfolg, dass bei fast 70 Prozent aller Hartz-IV-Verfahren Rechtsfrieden auf eine Weise hergestellt wird, die für beide Parteien einsichtig ist. In jedem dritten Fall nehmen die Kläger die Klage zurück. Nur in jedem fünften Fall kommt es zu einem Urteil.

Arbeitsloseninitiativen sind nicht überrascht, dass so viele Leute, die gegen Hartz-IV-Bescheide klagen, vor Gericht recht bekommen. „Das sind aber nur die Fälle, die überhaupt bekannt werden“, meint Angelika Klahr vom Förderverein gewerkschaftlicher Arbeitslosenarbeit e. V. Die Dunkelziffer sei viel höher. Und Anne Allex vom Runden Tisch gegen Erwerbslosigkeit und soziale Ausgrenzung empfiehlt jedem, der Zweifel an einem Bescheid der Hartz-IV-Behörde hat, Widerspruch einzulegen. Mit dem Widerspruchsbescheid solle er dann eine Beratungsstelle aufsuchen oder direkt bei der Antragsstelle beim Sozialgericht Klage einreichen.

Die „Antragsflut“ in Sachen Hartz IV hat allerdings auch für das Gericht negative Auswirkungen. Nicht nur blieben 3.000 Hartz-IV-Verfahren im letzten Jahr unerledigt. Um die restlichen Fälle überhaupt bewältigen zu können, wurden neben neuen Stellen auch Richter aus anderen Rechtsgebieten abgezogen. Deshalb müssten Rentner, Kranke, Unfallopfer, Pflegefälle bei ihren Verfahren nun länger auf eine Entscheidung warten, so der Pressesprecher. Die Massenarbeitslosigkeit überfordere eben alle – „die Betroffenen, die Jobcenter, die hektisch aus dem Boden gestampft wurden und millionenfach die Existenzsicherung der Arbeitslosen und ihrer Familien übernehmen sollen, und eben auch die Gerichte“, meint der Pressesprecher.

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