: berliner szenen Ein Trauma
Der Mutter geht’s gut?
Eigentlich bin ich nach Berlin gezogen, weil ich die Stadt so schön finde und hier viele meiner Freunde wohnen. Aber jetzt komme ich kaum noch raus, geschweige denn, dass ich meine Freunde sehe.
Alles fing damit an, dass mir jemand auf der Schönhauser Straße in meinen alten Käfer fuhr. Ich stand vor einer roten Ampel, als es krachte. Mein Kopf flog vor und zurück und wieder vor. Schleudertrauma.
Als ich meinen Hals einigermaßen schmerzfrei bewegen konnte, machte ich einen Termin bei einer Krankengymnastin. Sie klang sehr nett am Telefon und ich entschloss mich, ihr mein Genick anzuvertrauen. An dem Tag jedoch, an dem ich nachmittags zu ihr hinkommen sollte, rief sie morgens an und sagte ab. Ihre Mutter sei gestorben, sagte sie, sie könne heute nicht arbeiten. Das täte mir Leid, murmelte ich, dann legten wir auf.
Osteopathie ist sowieso viel besser als Physiotherapie, dachte ich mir und verabredete einen Termin bei einer Osteopathin. Vor meiner ersten Behandlung ein paar Tage später rief sie jedoch an und meinte, sie könne die ganze Woche nicht arbeiten, ihre Mutter sei gestorben. Als dann auch noch die Sprechstundenhilfe meiner Zahnärztin anrief und meinen Termin absagte, weil die Mutter der Ärztin gestorben sei, hielt ich mich endgültig für ein schlechtes Omen.
Ich mache nun gar keine Termine mehr aus, auch nicht mit Freunden. Ich will sie nicht um ihre Mutter bringen. Manchmal schleiche ich die Schönhauser Straße entlang, dort, wo alles anfing, und hoffe, einen meiner Bekannten zufällig zu treffen, ohne mich mit ihm verabreden zu müssen. Wir könnten einen Kaffee trinken gehen, und ich könnte ihn vorsichtig nach seiner Mutter fragen. SANDRA NIERMEYER
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