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Und das alles nur für die Haftentlassung

Wirklichkeit abbilden oder mit der Kamera erst herstellen: „Mona Lisa“ (Forum) aus China stellt sehr bewusst die Frage aller Dokumentarfilme

Die Wirklichkeit ist stärker. So oder so ähnlich formulieren es derzeit fast alle chinesischen Filmemacher, die nach 1960 geboren sind. Viele, die heute Spielfilme drehen, haben in ihrer Filmografie mindestens einen Dokumentarfilm zu verzeichnen. Und sie arbeiten auch für ihre fiktionalen Filme immer noch gern mit Laiendarstellern, mit billiger Technik und kleinen Kameras, die allzeit griffbereit sind und leicht zu verstecken. Trotzdem ist aus ihrem Mund selten nur naiv von begleitenden, betrachtenden Filmen die Rede, immer geht es ihnen auch um den Eingriff des Films in die Wirklichkeit. Entweder, man hat – im Dokumentarfilm – den Eindruck, die Figuren spielen sich selbst. Oder sie gehen – im Spielfilm – einem Plot nach, der vom Regisseur inspiriert sein mag, der aber ständig von ihnen mit- und umgeschrieben wird.

So auch bei Li Yings viertem Dokumentarfilm „Meng Na Li Sha“ („Mona Lisa“) im Forum. Der Film erzählt von einer zerfallenden Familie in einem kleinen Dorf in der südchinesischen Provinz Fujian. Es geht um ein junges Mädchen und deren Großmutter, die allein leben in einem großen, leeren Haus. Die Adoptivschwester Ah Qiong ist ausgezogen und die Mutter sitzt weit weg im Gefängnis. Nach und nach stellt sich heraus, dass sie verurteilt wurde, weil sie Ah Qiong als kleines Kind entführt hat. Als bei der Großmutter Krebs diagnostiziert wird, gelingt es den Schwestern – die ein distanziertes, aber interessiertes Verhältnis haben –, die Mutter unter polizeilicher Aufsicht für einen Tag aus dem Gefängnis zu bekommen. Sie, die von Ah Qiong beschuldigt wird, ihr Leben und das Leben ihrer leiblichen Eltern zerstört zu haben, darf ein letztes Mal die Großmutter sehen, die bereits im Sterben liegt.

Die große Stärke von „Mona Lisa“ ist, dass man sich als Zuschauer immer wieder fragt, was an der Geschichte „echt“ ist und was nicht. Ist es möglich, in einer ländlichen, ärmlichen Umgebung wie dieser jemals ein ganzes Kamerateam zu vergessen, sei es auch noch so klein? Oder sind womöglich sogar jene Momente „wahrhaftiger“, in denen Ah Qiong und ihre Mutter Gespräche führen, die sie ohne Kamera nie geführt hätten? Machen sie sich die Situation sogar zunutze?

Es gibt eine Szene im Film, die vor allem deshalb so interessant ist, weil sie so unnatürlich wirkt. Ah Qiong, die Mutter und ein paar Polizeibeamte befinden sich im Zug Richtung Heimatstadt. Endlich führen Mutter und Tochter ein klärendes Gespräch, wie man das selten erlebt im chinesischen Alltag, in dem man besonders in der Öffentlichkeit eher auf Konfliktvermeidung achtet. Man fühlt sich versetzt ins Brecht’sche Verfremdungstheater. Die Mutter erklärt lang und steif, wie sie Ah Qiong vor zwanzig Jahren auf einem Markt gefunden und einfach mitgenommen hat. Aufgrund der Einkindpolitik werden in China auf dem patriarchalisch geprägten Land bis heute permanent kleine Mädchen ausgesetzt. Die Mutter dachte, Ah Qiongs Eltern wollten sie nicht mehr. Ah Qiong und ihre Mutter nehmen die seltsame Situation, die Anwesenheit der Kamera, als Chance, ihre persönliche Tragödie zu transzendieren. Es entsteht Abstand zur eigenen Geschichte. Der Film greift ein in die Wirklichkeit, die er abbildet. Dass alles andere gelogen wäre, bestätigt Li Ying, der Regisseur von „Mona Lisa“, indem er berichtet, wie er die Familie zur Zusammenarbeit bewegen konnte. Sie spürten, der Film könnte eine frühzeitige Entlassung der Mutter erleichtern. SUSANNE MESSMER

„Mona Lisa“ („Meng Na Li Sha“), R.: Li Ying, VR China/Japan 2007, 110 Min.; heute, 20 Uhr, Cinestar

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