: Aus Fehlern gelernt
Der Vorwurf der „Altersvergesslichkeit“ an prominente Alt-Achtundsechziger ist verfehlt. Denn diese haben sich längst ihrer Geschichte gestellt. Eine Antwort auf Klaus Walter
Es ist ja wahr: Die Entstehung der Roten Armee Fraktion (RAF) lässt sich nicht verstehen ohne die Dynamik jener antiautoritären Bewegung in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts, die damals rasch in konkurrierende Gruppen zerfiel.
Was all diese Gruppierungen miteinander verband, war zweierlei. Erstens eine fundamentale Gesellschaftskritik, die sich einer zunehmend linksradikalen Rhetorik bediente. Sie richtete sich gegen die „kapitalistischen Verhältnisse“, aus deren Schoß schließlich die faschistische Barbarei gekrochen sei. Stichwort: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen.“ In Deutschland richtete sie sich zudem gegen einen „autoritären Staat“, der in der imaginierten Nachfolge des Hitlerregimes zu stehen schien.
Zweitens baute sie auf die antikoloniale Solidarität mit den vom westlichen, insbesondere amerikanischen „Imperialismus“ ausgebeuteten, unterdrückten und entrechteten Völkern der Dritten Welt. Diese äußerte sich in allerlei Unterstützungsaktivitäten für die bewaffneten nationalen Befreiungskämpfe, sei es nun in Vietnam, Kambodscha, Simbabwe, Nicaragua oder anderswo.
Als die RAF ihre verwegene Idee vom bewaffneten Kampf in den Metropolen propagierte und den ausgemachten Menschheitsfeind an seiner Heimatfront anzugreifen begann, konnte sie deshalb zumindest auf klammheimliche Zustimmung rechnen, gelegentlich gar auf offene Bewunderung für ihren Mut und ihre Konsequenz. Selbst wenn ihre Methoden abgelehnt wurden, galten die bald im Untergrund agierenden RAF-Mitglieder doch irgendwie als Genossinnen und Genossen, mit denen man sich gegen die staatliche Repression solidarisch fühlen und die man aus der Kampfgemeinschaft für eine bessere Welt nicht ausgrenzen durfte.
Bei aller „Kritik der Waffen“ blieb die „Waffe der Kritik“ merkwürdig stumpf. Insofern tragen wir alle, die wir der Achtundsechziger-Generation angehören, politische Verantwortung dafür, dass sich am Rande der Revolte eine Gruppe zusammenfinden und aus Sympathisantenkreisen eine zweite und schließlich eine dritte Generation von Kriegern rekrutieren konnte, die das verhasste „Schweinesystem“ wegzubomben und seine Repräsentanten – bloße „Charaktermasken“ – buchstäblich zu liquidieren versuchte.
Allerdings hat die Debatte um den „deutschen Herbst“ und seine Vorgeschichte, wie sie anlässlich der bevorstehenden Entlassung der letzten RAF-Häftlinge in Gang gekommen ist, im Frühjahr 2001 schon einmal stattgefunden. Vor sechs Jahren ging es um Joschka Fischer, der sich, gerade zu Bundesministerehren gelangt, für seinen früheren Hang zur Gewalt hatte rechtfertigen müssen. All die arrivierten „Exlinken“, die Klaus Walter jetzt für ihre angebliche Lebenslügen an den Pranger stellt, haben sich an dieser Generationendebatte öffentlich beteiligt und zu ihrer revolutionären Vergangenheit bekannt: der grüne Europaabgeordnete, der Hamburger Sozialforscher, der Frankfurter Historiker, der Berliner Essayist, der deutsche Außenminister. Dabei übrigens auch, um die Prominentenliste fortzusetzen, ein gestandener taz-Redakteur (einst KPD-AO), ein Berater im Außenministerium (einst KBW), der heutige Chefredakteur der Welt (einst bei „Revolutionärer Kampf“) und viele andere mehr.
Damals bereits haben die erwachsen gewordenen Nachkriegskinder Aufklärung als Selbstaufklärung betrieben, ihre eigene politische Reifungsgeschichte als die der Bundesrepublik rekonstruiert. Deren Mangel an Liberalität hatte schließlich einiges dazu beigetragen, „aus Kindern des Bildungsbürgertums Anhänger gewaltsamer Aktionen“ zu machen (Christian Semler). Erst unter dieser Herausforderung sollte sich Deutschland zur liberalen Demokratie westlicher Prägung entwickeln.
Angesichts dieser Debatte läuft der Vorwurf der Altersvergesslichkeit ins Leere. Aber zwischen den Zeilen kann man im Beitrag von Klaus Walter lesen, was ein superradikal gebliebener Kultur- und Pop-Linker wie er tatsächlich denunzieren möchte: dass wir uns von den Irrwegen, auf die uns die Revolte geführt hatte, politisch inzwischen distanziert haben. Zur Selbstaufklärung gehörte nämlich auch die Absage an die revolutionäre Selbstermächtigung sowie das Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie und zum politischen Reformismus. Dazu gehörte auch die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols und des zivilisatorischen Fortschritts, der sich im Prinzip der Gewaltenteilung verbirgt.
Was Klaus Walter uns wirklich übel zu nehmen scheint, ist die nachträgliche Versöhnung mit der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die doch immer noch von Altnazis beherrscht wurde – von all den „Höfers, Filbingers und Schleyers“, wie er schreibt.
Hier nun wird eine immer noch unaufgeklärte Moralschicht im Sozialcharakter der Achtundsechziger-Generation berührt. In Westdeutschland waren bekanntlich die Verbrechen des Nationalsozialismus zwei Jahrzehnte lang öffentlich „beschwiegen“ und ihre juristische Aufklärung verschleppt worden, während der verordnete Antifaschismus in Ostdeutschland sie dem Klassenfeind anhängte und so entsorgte. Die Nazieltern, denen psychoanalytisch ihre „Unfähigkeit zu trauern“ bescheinigt worden war (mit dieser Diagnose hatten die Mitscherlichs übrigens nicht die ausbleibende Trauer über das Angerichtete gemeint, sondern den scheinbar unbetrauerten Verlust eines kollektiven Ichideals, das für die deutsche Volksseele im Führer verkörpert gewesen war), hatten sozialpsychologisch ihren Kindern die nötige Trauerarbeit überlassen.
Dieses vergiftete Erbe sorgte dafür, dass sich in die realen politischen Auseinandersetzungen jener Zeit auch die projektiven Verkennungen eines Generationenkonflikts hineinschoben. Dies feuerte den Hass erst recht an, der beide Seiten so innig miteinander verband – zumal sich vom moralischen Überschuss zehren ließ, den der Gang der Weltgeschichte bot. Der Kult um Mao Tse-tung, Che Guevara oder andere Heroen der Menschheitsbefreiung wurde nicht zuletzt von der adoleszenten Sehnsucht nach Identifikationsfiguren gespeist, die in der eigenen Elterngeneration kaum zu finden waren. Und in Frantz Fanons Befreiungstraktat „Die Verdammten dieser Erde“ (1961) konnten wir lesen, dass der Kolonisierte vom Nicht-Menschen (vom „kolonisierten ‚Ding‘“, wie Sartre im Vorwort schreibt) zum Menschen erst durch die antikoloniale Gewaltausübung wird.
Mit einer vergleichbaren Gewaltfeier im Dienste der Selbstfindung „bereicherte“ die Rote Armee Fraktion einen politisch entgleisenden Generationendialog: Mensch oder Schwein. Sie verkörperte eine Hypermoral, der alle moralischen Skrupel geopfert werden durften, weil letztlich der hehre Zweck jedes Mittel heiligte. Solange hier noch die überfällige Trauerarbeit zu leisten ist, kann die RAF – für unsere Generation jedenfalls – nicht zur Geschichte werden.
MARTIN ALTMEYER
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