piwik no script img

Zwei von vier Millionen

AUS BERLIN UND KASSELNADJA KLINGER UND JENS KÖNIG

Auf Fred Schirrmachers Strickpullover, vorn auf der Brust, ist ein buntes Bild. Ein paar Leute versuchen, über einen Fluss zu gelangen. Das Ufer ist unwegsam. Zwei, drei Männer machen sich zu schaffen. Andere sind nicht ganz so bei der Sache, wieder andere warten nur drauf, dass das Unterfangen gelingt.

Der 44-jährige Fred Schirrmacher verschränkt seine Arme vor der Brust. Er sitzt mit etwa 20 Männern und Frauen zusammen. Es gibt Malzbier und Kaffee. Es gibt eine Liste, auf der der Name eines jeden landet, der reden will. Neben der Liste steht die Tischglocke. Redet einer zu viel, zieht Schirrmacher den Arm aus der Verschränkung und haut mit der Hand drauf.

Pling! Er blickt streng. Sie sind immer noch bei Tagesordnungspunkt eins: aktuelle Politik und Auswertung der letzten Demonstrationen. Draußen vorm Fenster, im Licht einer Neuköllner Straßenlaterne, hängt fadendünner Regen. Langsam sollten sie zu den Schlussfolgerungen kommen. Solange Schirrmachers Hand auf der Glocke liegt, sind die Männer auf dem Pullover zu sehen, die über den Fluss wollen. Die Aktion ist immer noch im Gange. Aber sie kommt nicht voran.

So wie Schirrmacher und seine Leute. Ende 2003, als das Hartz-IV-Gesetz in Sack und Tüten war, sind sie in Berlin auf die Straße gegangen. Es war an einem Montag, nicht zufällig. Sie nannten sich Montagsdemonstration. Der Name war geklaut. „Wir sind das Volk!“, hatten hunderttausende DDR-Bürger im Herbst 1989 gerufen. Ohne Lautsprecher, ohne den Schutz der Medien, gegen die Staatsgewalt brachten sie die Regierung zu Fall. Der Name war also vielversprechend.

Die Berliner Montagsdemonstration gibt es bis heute. An diesem Abend machen die Akteure Vollversammlung. Sie passen alle an einen Tisch. Der Name ist ein Mythos.

Der Platzhirsch vom Alex

Fred Schirrmacher ist der Mann, der seit Ende 2003 die Berliner Montagsdemo auf dem Alexanderplatz anmeldet. Schirrmacher ist der Platzhirsch vom Montagabend. Seine Leute bringen ein Transparent, Plakate und Lautsprecher mit. Sie verteilen Flugblätter. Manche Leute lesen. Sie singen Lieder, manche Leute gucken hin. Aber wirklich registriert werden sie wohl nur von der Polizei.

Um die Hoffnung nicht aufzugeben, hält Schirrmacher am Alex fest. Gleichzeitig beißt er die Zähne zusammen und lässt los. Seit Januar 2007 sind sie nur noch einmal im Monat hier.

Einst, in der Schule, waren Fred Schirrmachers Rechenwege zu kurz. Aber er kam auf das richtige Ergebnis. Wenn er das in der Prüfung so mache, hat man ihm gedroht, lasse man ihn durchfallen. Das war in den 70er-Jahren in der DDR. Als Kind versteht man vieles nicht. Schirrmacher wurde Maurer, ein korrekter Bauarbeiter, der stillschweigend darauf achtete, auf seinem eigenen Weg zu bleiben. Sich nie daran zu gewöhnen, etwas nicht zu verstehen.

Als die Mauer fiel, arbeitete er in einer Polsterwerkstatt am nordöstlichen Rand Berlins. Die Kunden holten nicht einmal mehr die Möbel ab, die sie in Auftrag gegeben hatten, sondern kauften in Westberlin neue. 1991 musste Fred Schirrmacher entlassen werden. Er verkaufte dann Textilien, Haushaltswaren, Lebensmittel auf Märkten, eröffnete einen Laden, fand Arbeit auf dem Bau. Seine Ehefrau fand, dass das zu viele Veränderungen waren. Sie ließen sich scheiden.

Schirrmacher rackerte auf Baustellen, erlebte Entlassungen, kämpfte um Lohn, den man ihm nicht geben wollte, machte sich selbstständig, litt unter der miesen Zahlungsmoral der Auftraggeber, landete auf dem Arbeitsamt, wurde wieder auf den Bau vermittelt.

In Kreuzberg lieferten sich am 1. Mai junge Leute Straßenschlachten mit der Polizei. Gewalt war nichts für Schirrmacher. Freiheit, Gesundheit waren ihm zu schade, um sie für die Gemeinschaft zu opfern, die ihm das nicht danken würde.

Er las den Spiegel, beobachtete die Arbeitsmarktreform, die Hartz-Kommission. So schlimm kann’s nicht werden, sagte er sich. Sie müssen den Leuten genug Geld lassen und den sozialen Frieden wahren. Aber irgendwie glaubte er sich selbst nicht. Er konnte den Blick von Kreuzberg nicht mehr abwenden. Vielleicht war es Zeit für eine andere Sprache? Er ertappte sich dabei, wie er bedauerte, wenn die Randalierer am 1. Mai eine Bank nicht stürmen konnten, weil die Polizei dort wachte.

Mit 37 Jahren erlitt er einen Arbeitsunfall. Da lebte er schon mit der vier Jahre älteren Manuela zusammen. Auch ihre Rechenwege waren stets kürzer gewesen als normal. Sie war in Westberlin zur Schule gegangen. Dort bewertete man ihre richtigen Ergebnisse einfach nicht. Sie wurde Kontoristin, arbeitete 14 Jahre lang in dem Beruf, den Abschluss hat man ihr nie bescheinigt, weil sie Geld zum Leben verdient hat, anstatt die Berufsschule zu besuchen. Mitte der 80er-Jahre hatte sie einen Sohn zur Welt gebracht, aber keinen Kindergartenplatz bekommen. Sie musste kündigen. Dann wurde sie Altenpflegerin. „Ich liebe alte Menschen“, sagt sie. Nach 20 Pflegejahren besitzt sie auch für diesen Beruf keinen Abschluss. 2001 wurde sie Frau Schirrmacher. Sie ist krank und deshalb seit kurzem in Rente. Sie ist 48 Jahre alt und bekommt 580 Euro im Monat.

Seit seinem Unfall fiel es Fred Schirrmacher schwer, in der Höhe zu arbeiten. Er begann eine Umschulung zum Steuerfachangestellten. Im November 2003 waren die Hartz-IV-Gesetze fertig. Schirrmachers waren davon nicht betroffen, aber er sagte zu seiner Frau: „Jetzt muss man was machen!“ Sie saßen auf dem Sofa im kleinen Wohnzimmer im Erdgeschoss in Friedenau zwischen Raubtieren aus Plüsch und dem Stoffaffen, der an einer Palme klettert.

Ein Jahr zuvor waren sie in Kenia gewesen. Jeder für 799 Euro, zwei Wochen Drei-Sterne-Hotel, Vollpension. Ein Angebot von Tchibo.

Sie saßen auf dem Sofa wie einst im Jeep auf der Safari, wo Elefanten direkt an ihnen vorbeigelaufen waren und Löwen herumgelegen hatten. Manuela Schirrmacher strahlte ihren Mann auf dem Sofa an. Sie war bereit. Sie war seine erste Verbündete.

Verhaltensgestörte Bewegung

Kurz darauf fanden sich die Schirrmachers im Hinterzimmer einer Neuköllner Kneipe dicht gedrängt zwischen Leuten wieder. Wogegen waren diese Leute? Die Antwort war klar. Und wofür? Sie redeten und redeten. Das Einzige, worauf sie sich einigten, waren der Montag und der Alex.

Bereits am ersten Abend zeigte sich die neue Bewegung verhaltensgestört. „Mehr als drei Jahre demonstrieren wir miteinander, aber darüber, was wir wollen, sind wir absolut nicht einig“, sagt Fred Schirrmacher heute. „Montags gegen Agenda 2010“ – dieses große Motto umarmt alle Uneinigen seit Dezember 2003. 500 Menschen demonstrierten damals in Berlin. Im Januar 2004 waren es noch 200, einen Monat später 50 Leute. Auf den Ämtern bereitete man die Umsetzung von Hartz IV vor.

Um die Geschichte der bundesdeutschen Montagsdemonstrationen weiterzuerzählen, bräuchte man lange. Widersprüchliche Daten und Zahlen sind schwer zu sortieren. In Zeugenaussagen stecken viele Emotionen und wenig Fakten.

Seit Sommer 2004 füllten die Menschen ihre Anträge auf Arbeitslosengeld II aus. Hartz IV nahm Gestalt an. Die Bewegung wuchs. Anfang August wurde in vielen deutschen Städten demonstriert. Blanker Hass schlug der Schröder-Regierung in Ostdeutschland entgegen. Ein paar Wochen lang roch es erneut nach Wende, nach Revolution. Auch auf dem Alex in Berlin wurden sie wieder mehr. Aber sie jubelten zu früh. Denn auf Aufruhr waren alle scharf: Gewerkschaften, Protestgruppen, Parteien.

Wo kamen sie auf einmal her, die anderen, die in Berlin zu einer zweiten Montagsdemonstration aufriefen? Schirrmacher lief ins Gewerkschaftshaus, wo sie sich organisierten. Er sagte: „Wir sind schon da, sind angemeldet, haben Lautsprecherwagen und eine Band, ihr braucht nur mit uns zu marschieren.“ Auf einer Pressekonferenz fand er sich als Letzten auf der Rednerliste. Als er zu sprechen anhob, war die Presse schon gegangen.

Er nahm am Kooperationsgespräch mit der Polizei teil. Man legte zwei Routen fest, auf denen zwei Demonstrationen vom Alex zur SPD-Zentrale führten. Vielleicht 15.000, vielleicht 30.000 Menschen. Wer heute im Internet recherchiert, gewinnt den Eindruck, dass die Ereignisse nicht wirklich stattfanden, sondern lediglich interpretiert wurden. Der Streit zwischen den Aktiven – Wer war zuerst da? Wer hat den Hut auf? Wer läuft in die richtige Richtung mit den richtigen Parolen? – durchzog die bedauernswerte Republik schneller als das Band der Einigkeit.

Ende August 2004 traf man sich in Leipzig, um die Proteste vielleicht doch noch zu koordinieren. Überliefert ist: Aus 66 Städten kamen 186 Leute. Hier und da fanden dann gemeinsame Aktionen statt. Immer auch mehrere nebeneinander: Märsche, an die sich alle möglichen politischen Gruppen hängten. Wehrte man sich hier gegen die Vereinnahmung durch die PDS, fürchtete man dort die Rechten. Der Papierkrieg artete aus. „Man war über und über mit Handzetteln beladen“, sagt Schirrmacher.

Seit Herbst 2004 wurde montags die Gesamtzahl aller Demonstrierenden im Land vermeldet. Am 20. September sollen es fast 100.000 in 230 Städten gewesen sein. Am Tag drauf saß Manuela Schirrmacher beim Arzt, um die Blessuren der Prügelei vom Vorabend untersuchen zu lassen. Die Polizei hatte ihren Lautsprecherwagen beschlagnahmt. Er war nicht zugelassen. Fred Schirrmacher musste Strafe zahlen, weil seine Ordner Westen statt Armbinden trugen. Vielleicht hat die Polizei nicht mehr durchgesehen und die Nerven verloren. Vielleicht stimmt, was viele erzählen: Man demonstrierte in Berlin mittlerweile gegeneinander – und verbündete sich dafür auch mit der Polizei.

Der Rest sind Formalien

Im Grunde sind vom Leipziger Versuch, Arbeitslose und Benachteiligte in Deutschland zu einigen und zu stärken, die üblichen Formalien eines demokratischen Staates übrig geblieben: eine bundesweite Koordinierungsgruppe, Koordinierungsgruppen in den Ländern, das jährlich stattfindende Delegiertentreffen mit Delegiertenschlüssel, Konferenzregeln, Tages- und Wahlordnung. Rechnet man die Teilnehmer an den Montagsdemos im ganzen Land zusammen, gibt es derzeit noch 1.600 bis 2.400 Aktive. „Wir könnten Millionen sein“, sagt Schirrmacher.

142 dieser Millionen sitzen an diesem Samstag im Philipp-Scheidemann-Haus in Kassel zusammen. Sie sind Delegierte. Sie bilden die 5. Delegiertenkonferenz der bundesweiten Montagsdemonstrationsbewegung. Sie kommen aus 67 Städten. Die meisten von ihnen sind über Nacht hierher gefahren. Sie haben Fahrgemeinschaften gebildet, Geld für Bahnfahrkarten haben sie keines. Sie sind arbeitslos.

„Die Regierung versucht, uns einzulullen“, sagt Jürgen. „Sie behauptet, die Arbeitslosigkeit sinke. Aber wir wissen: Das Gegenteil ist der Fall. Hunderttausende Arbeitsplätze werden vernichtet.“ Jürgen kommt aus Gelsenkirchen. Er ist einer der Sprecher der bundesweiten Koordinierungsgruppe. Er eröffnet die Delegiertenkonferenz mit ein paar grundlegenden Analysen der politischen Lage in Deutschland. Die 142 Delegierten sehen müde aus. Die Nachtfahrt hängt ihnen noch in den grauen Klamotten. „Wir sind das soziale Gewissen Deutschlands“, ruft Jürgen. „Die bundesweite Montagsdemonstrationsbewegung gibt Mut und Orientierung.“ Auf dem Podium neben ihm sitzen Fred Schirrmacher und seine Frau Manuela. Er trägt ein kanariengelbes Sakko, sie einen leuchtend bunten Pullover. Sie haben sich fein gemacht.

Die Freiheit der Debatte

Das soziale Gewissen Deutschlands lässt sich von Jürgen, dem Sprecher, seine Schlagkraft erläutern. Montagsdemos mit durchschnittlich 30 Teilnehmern durften zwei Delegierte entsenden, Demos mit 70 Teilnehmern drei Delegierte, die mit 120 Teilnehmern vier. Dann erklärt Jürgen die ausgefeilten Konferenzregeln. Stimmberechtigt sind nur gewählte Delegierte, keine Gäste. Die Redezeit beträgt drei Minuten. Und keine diffamierenden Angriffe auf Teilnehmer der Montagsdemobewegung!

„Jetzt noch die Tagesordnung“, sagt Jürgen. Er kündigt einen Tätigkeitsbericht der Koordinierungsgruppe an, einen Finanzbericht, einen Revisionsbericht, Beschlussfassungen über zentrale und regionale Aktivitäten, die Wahl der neuen Koordinierungsgruppe, die Wahl der neuen Revisionskommission, eine Abschlusserklärung.

Als das Protokoll abgearbeitet ist, werden die Saalmikrofone geöffnet. Sofort bilden sich lange Schlangen. Das, was jetzt beginnt, nennt man auf anderen politischen Veranstaltungen „Debatte“. Debatten drehen sich um etwas. Hier in Kassel dreht sich jeder einzelne Redner um sich selbst. Als hätte man ihm gerade seine Freiheit geschenkt. Diese Freiheit will er jetzt ausleben. Einer berichtet von seinen Schwierigkeiten mit der Polizei, ein anderer von der Ignoranz der Leute, die noch Arbeit haben. Jens aus Darmstadt schimpft auf die „asoziale Regierung“ in Berlin. Jürgen aus Karlsruhe will gar nicht erst schimpfen, sondern gleich Neuwahlen. Eine ältere Frau aus Essen findet, dass reden allein nicht mehr hilft. „Wir müssen endlich aufräumen.“

Wer seine Wut in drei Minuten nicht ablassen kann, stellt sich einfach wieder ans Ende der Schlange. „Denkt an die Tagesordnung“, mahnt Jürgen auf dem Podium. Manrico aus Berlin möchte über eine „neue große Bedrohung“ reden, „ich sage nur: Genmanipulation“. Manrico zitiert Henry Kissinger: Wer die Ernährung kontrolliere, der kontrolliere auch die Menschen, soll er gesagt haben.

Joachim aus Duisburg ist dran. Er sagt, er sei gegen Krieg und Umweltkatastrophen. Die Worte, die die Demonstranten von der Straße mit in den Saal gebracht haben, passen nicht hierher. Sie sind zu groß und zu schmutzig. „Die Schweine da in Berlin kriegen doch nichts mehr mit“, brüllt Ursula aus Karlsruhe.

„Ab jetzt wird nur noch den Reden applaudiert“, schlägt ein Mann mit lauter Stimme vor. „Das Dazwischenklatschen kostet nur Zeit.“ Das Podium will endlich zu Punkt drei der Tagesordnung kommen. Dorothea liest den Finanzbericht vor. Sie redet von Einnahmen, Ausgaben und Überschüssen. Jürgen auf dem Podium drückt aufs Tempo. „Jetzt bitte den Revisionsbericht.“ Ein Mann im Publikum steht auf. „Die Kasse ist in Ordnung“, sagt er. Die Delegierten heben ihre orangefarbenen Stimmkarten.

Eine Frau im Saal will wissen, wann sie mit ihrer Musikgruppe spielen darf. „Jetzt nicht“, sagt Jürgen. Die Koordinierungsgruppe will Beschlüsse fassen. Sie möchte einen Teil des Strafgeldes, zu dem Peter Hartz verurteilt wurde, für die Demobewegung haben. „Kommt man an dieses Geld nicht heran, wenn man ein gemeinnütziger Verein ist?“, fragt ein Delegierter. Auf dem Podium entsteht keine Verwirrung. Der Beschluss wird gefasst wie vorgehabt.

Ein zehnjähriges Mädchen singt ein Lied über die Kinder dieser Welt. Die Leute sind begeistert, fotografieren mit Digitalkameras. Anschließend nehmen sie die Abschlusserklärung an. „Wir sind stolz darauf, das soziale Gewissen Deutschlands zu sein“, steht darin.

Demo ohne Schirrmachers

Vor drei Wochen noch, an einem Montag Anfang Februar, standen Fred und Manuela Schirrmacher an der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz. Es war dunkel, ringsum leuchteten Kaufhäuser. „Reiht euch ein gegen Hartz IV!“, rief einer von Schirrmachers Leuten den Passanten zu. Aus dem kleinen Einkaufsrolli, der als Lautsprecherwagen diente, schallte Bob Marley: „Get up, stand up: stand up for your rights!“ Die Musik prallte gegen ein Polizeiauto, das Position bezogen hatte. „Don’t give up the fight!“, sang Marley.

„Weg mit Hartz IV. Das Volk sind wir“ stand auf einem Transparent. Es hatte Straßenbreite. Es waren so viele Demonstranten da, dass dahinter drei, vier Sechserreihen gebildet werden konnten. „Es gibt nichts Demoralisierenderes, als mit wenig Leuten zu marschieren“, murmelte Schirrmacher. Eine Frau rief: „Lasst uns gehen, dann wird uns warm!“ Als kleiner, lärmender Schatten schob sich die Berliner Montagsdemonstration über den Alex, verschwand hinterm Hotel Park Inn Richtung Rotes Rathaus.

„Ich staune, dass die Polizei sie auf der Fahrbahn laufen lässt“, sagte Fred Schirrmacher. „Das tun die, damit wir uns lächerlich machen“, erwiderte seine Frau. Sie zupfte die gelben Demosticker von ihrer und seiner Jacke, schob sie in die Tasche. Es war ein besonderer Montag. Es wurde demonstriert, aber sie beide liefen nicht mit. Es war vorbei, so konnte man das sagen.

Vorm Roten Rathaus warteten vier Polizeiwagen auf die Abschlusskundgebung. Beim Regierenden Bürgermeister brannte noch Licht. „Der Wowereit feiert bestimmt ’ne Party und hört uns nicht!“, schallte es von der Straße herüber. Man sang zur Melodie von „Bei mir biste scheen“. Der Mann am Mikro gab alles, die anderen Stimmen kämpften mit dem Wind. „Es hat keinen Zweck / Hartz IV, das muss weg / und mit ihm das Berliner Kabinett.“

Beim Rückflug von Kenia wollte man am Flughafen plötzlich für jedes Kilo Gepäck 8 Euro kassieren. Wegen der hohen Luftfeuchtigkeit waren die Kleider schwer. Schirrmachers packten eine Tüte, um alles zu verschenken, und liefen zu den Blechhütten unweit vom Hotel. Die Bewohner fielen regelrecht über sie her, rissen Röcke und Jacken an sich. „He, das gehört zusammen“, hat Manuela Schirrmacher gerufen, „das ist ein Kostüm!“ Sie war geschockt. „Keine Solidarität unter Armen“, sagt sie.

„Die Leute schämen sich“

Schirrmachers haben weder Lebens- noch Hausratversicherung noch Geld auf der Kante. Sie gehen nicht auf Sicherheit, sondern auf die Straße. Sie demonstrieren immer noch gegen die Agenda 2010. Aber die Themen dieser Agenda, ungerechte Steuer- und Arbeitsmarktreformen, schlechte Bildungspolitik, die haben sie irgendwie aus dem Blick verloren. „Wir wollen da wieder hin“, sagt Schirrmacher. Hartz IV, die größte Bedrohung für ein würdevolles Leben, das Übel, das sie zuallererst wegprotestieren wollten, führt in Deutschland mittlerweile ein reales Leben. „Die Leute schämen sich, mit uns gesehen zu werden“, sagte Fred Schirrmacher am Tag nach der verpatzten Alex-Demo zu Manuela. Hartz IV ist so etwas wie ihr Imageproblem.

„Wir sind ein aktiver Kern, der was bewegen kann.“ Es ist schwer, den Blick von dem großen, bunten Bild auf Fred Schirrmachers Strickpullover abzuwenden. Bewegen? „Zurzeit nicht“, sagt er. „Aber es brodelt.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen