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„Es gab keinen Inhalt mehr“

Kunst & Ideologie

Lutz Dammbeck wird 1948 in Leipzig geboren. Sein Vater arbeitet als Trainer von Rennpferden. Seine Mutter ist im Musikverlag Zimmermann & Söhne angestellt. Über Jahre hinweg logiert eine Kölner Fabrikantenfamilie mit ihren Söhnen während des städtischen Großereignisses „Leipziger Messe“ bei den Dammbecks. So wächst der kleine Lutz in real existierender Tuchfühlung zu westlichen Standards auf. Eine alltägliche Schizophrenie, die ihn früh für Widersprüche sensibilisiert.

Nach dem Abitur 1967 mit gleichzeitigem Abschluss als Schriftsetzer studiert er an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Illustration und Plakatkunst geben die künstlerische Blickrichtung vor, bis Dammbeck sich zunehmend für Collage- und Montagetechniken und schließlich für bewegte Bilder interessiert. Dank unbehinderten Feindsenderempfangs und florierenden Bücher- und Zeitschriftenschmuggels sind die Studenten auch über den Eisernen Vorhang hinweg informiert: über Filme von Antonioni und Godard, „Trickreiches“ von Loriot, aber auch über Pop-Art und Konzeptkunst.

Nach achtzehn Monaten Militärdienst als Kartenzeichner bei der NVA endlich erneut Zivilist, kann Dammbeck im einzigen Trickfilmstudio der DDR in Dresden seinen Erstlingstrickfilm für Kinder, „Der Mond“, basteln, der prompt im Wettbewerb des Internationalen Festivals für Animationsfilm in Annecy landet. Dieser Erfolg ebnet den Weg für weitere Projekte. Doch der Film „Der Schneider von Ulm“ (1979) findet beim Publikum nur verhaltene bis ungehaltene Aufnahme.

Experimentelles wie „Einmart“ (1981) firmiert bald als „konterrevolutionär“. Sein Filmprojekt „Herakles“ schmettert der Kulturfonds der DDR 1983 als „ästhetisch fehlgeleitet“ ab. Eine danach gestaltete „Mediencollage“ wird gleichwohl jenseits offizieller Bühnen mehrfach aufgeführt. Die Teilnahme an Gruppenprojekten wie „Erster Leipziger Herbstsalon“ (1984) kann den innerlichen Bruch jedoch nicht mehr kitten. 1986 verlässt Dammbeck mit der Fotografin Karin Plessing, der gemeinsamen Tochter, zwei Koffern und zwei Fahrrädern die DDR.

Seine erste TV-Produktion für den SWR/WDR („Der Maler kam aus fremdem Land“, 1988) konfrontiert Dammbeck mit mysteriösen technischen Pannen (Filmrollen werden belichtet. Dammbeck: „Es wimmelte im Westen von Stasi-Spionen.“). Danach produziert er seine Projekte selbst. In seinem Dokumentarfilm „Zeit der Götter“ (1993) wirft er einen Blick auf die Verquickung von Kunst, Macht und Ideologie im Werk des NS-Bildhauers Arno Breker. Ein Thema, das er mit den Protagonisten der Leipziger Malerschule um Bernhard Heisig als „Dürers Erben“ (1996) variiert.

Zwiespältige Reaktionen provoziert „Das Meisterspiel“ (1998). Darin geraten ihm seine Recherchen zu einem „Farbattentat“ auf Bilder des Wiener Malers Arnulf Rainer zu einem Exkurs über die Moderne, ihre Aporien und ihre Gegenspieler. 2004 nimmt Dammbeck das Thema mit düsterer Logik im TV-Film „Das Netz. Unabomber, LSD und Internet“ wieder auf.

Dammbeck erhielt verschiedene Auszeichnungen, zuletzt den Käthe-Kollwitz-Preis der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg 2005. Seit 1998 lehrt er als Professor für Neue Medien an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Am 26. Mai eröffnet in der Galerie COMA, Berlin, die Ausstellung „Re-Reeducation. Die Umerziehung der Umerzogenen“.

NIKE BREYER

Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Ein Gespräch mit dem Leipziger Medienkünstler Lutz Dammbeck über PCs, Blutwäsche per Kunst und den Unterschied zwischen Mäusen und Akteuren

von NIKE BREYER (INTERVIEW) und BERTRAM KOBER/PUNCTUM (FOTOS)

Was haben Kybernetik, Computer und Systemtheorie mit Kunst und Konstruktivismus zu tun? Mehr, als man auf den ersten Blick meinen könnte, behauptet Lutz Dammbeck. Mit einem „kybernetischen Weltmodell“ (Mäuse spielen mit Würfeln, die von einer Roboterhand immer wieder geordnet werden, die aus diesen Korrekturarbeiten „lernt“) wurde 1970 in der Ausstellung „Software“ in New York dem Publikum „künstliche Intelligenz“ vorgestellt und als verheißungsvoll formbare Zukunft von Kunst und Leben nahegelegt.

Dammbeck baut diese Installation in seiner ab dem 26. Mai in der Berliner Galerie COMA zu sehenden Ausstellung „Re-Reeducation“ nach und kontextualisiert sie durch Quellen wie zeitgenössische Literatur („Brainwash“, „On the Future of Art“, „Cybernetics“), wodurch das Systemische und tendenziell Totalitäre dieses modernen Kunst- und Weltverständnisses zutage tritt. Eine Spurensuche, die Dammbeck seit seinen künstlerischen Anfängen umtreibt.

taz.mag: Herr Dammbeck, in Ihren Arbeiten stößt man immer wieder auf eine Auseinandersetzung mit Systemen und totalitären Strukturen. Hat die DDR, in der Sie 38 Jahre Ihres Lebens verbracht haben, dieses Thema bei Ihnen gewissermaßen anmoderiert?

Lutz Dammbeck: Da liegen Sie nicht so schlecht. Man hatte im Osten ja immer das Gefühl, dass alles etwas zu bedeuten hat. Dass alles Konsequenzen hat. Was man macht oder auch nicht macht. Als man dann hierherkam, Mitte der Achtziger, hieß es dann mit einem Mal: „Ach, mach dir das doch nicht so schwer. Worüber du immer nachdenkst …“ Es gab keine Zusammenhänge, anscheinend. Das löste Erstaunen aus, dass man welche sehen wollte oder meinte, welche sehen zu können.

Zusammenhänge sehen ist eine spezifische DDR-Wahrnehmung?

Nehmen Sie die offizielle DDR-Kulturpolitik, die historisch auf der berühmten Formalismusdebatte der 50er-Jahre fußte. Die wollten damals darauf hinaus … wie hieß das noch mal? „Sozialistisch im Inhalt, national in der Form.“ Das war eine Debatte, die alle Lebensbereiche berührte. Das sollte am Ende eine durchgestaltete Umwelt sein. Die Kultur war bloß ein Teil davon. Dahinter stand ein Komplettgestaltungswille für die ganze Gesellschaft. In dem Stil: Was heißt sozialistische Kunst für diese Verpackung? Wie muss diese Brille aussehen, wie die Typografie? Dürfen wir noch Frakturschrift verwenden? Gibt es eine unserer Ideologie gemäße Antiqua-Schrift? Wenn’s die nicht gibt, müssen wir die schaffen. Ich habe ja Schriftsetzer gelernt, ich bin deutscher Facharbeiter. (lacht) Da ging man vierzehn Tage in die Schule und dann eine Woche in die Betriebe. Das war das Problem, wo sich das System quasi selbst ein Bein gestellt hat. Denn in diesen acht Tagen im Betrieb erkannte man auf einen Blick, was los war, sah die Realität: den Materialmangel, die Schlamperei, die Unlust der Leute. Man kann sagen, das war eine permanente konterrevolutionäre Situation. Das war jedem, der intellektuell einigermaßen ausgestattet war, sofort klar: Es kann eigentlich so nicht funktionieren.

Wie hat man sich diesen Komplettgestaltungswillen, der ja offenbar selbst die Vorstellungswelt der DDR-Bürger einschloss, vorzustellen? Wurde da irgendwo geplant, oder war das eher ein freies Spiel der Kräfte?

Nein, nein, dafür gab’s Instanzen. In diesem Parteiapparat gab es für Kultur zuständige Funktionäre, also Spezialisten. In Berlin war das Zentrum, und in jedem der DDR-Bezirke gab es Filialen. Auch auf der Leipziger Malerschule, die ich besuchte, gab es einen Verantwortlichen. Der war formal der Chef für diese jungen Maler – Tübke, Heisig, Mattheuer, Rinck, also die Vertreter der nachmalig sogenannten Leipziger Schule. Die waren ja alle Genossen. Die hatten dann zwar in der Hochschule eine eigene Parteieinheit, aber letztendlich lief alles über diesen Funktionär. Man musste sich damit auf die eine oder andere Art und Weise auseinandersetzen, musste ein Gefühl entwickeln für Distanz, für Nähe …

sich im staatlichen Subsystem Hochschule positionieren?

Also „System“ ist jetzt ganz wichtig. Denn: Das ist schon ein systemischer Entwurf. Natürlich gibt es den Faktor Zufall – zugleich aber auch Intentionen und Pläne. Schon am Anfang des Jahrhunderts wurde von der Komintern ein Szenario ausgedacht, also von Kropotkin über Bakunin und Trotzki bis zu anderen Intellektuellen, wie eine kommunistische Weltordnung aussieht. Das ist im Christentum nicht anders. Selbst im Islam gibt es diese Vorstellung. Na, und jetzt, nach dem Zweiten Weltkrieg, ergab sich die Möglichkeit, in einem überschaubaren, geschlossenen, beherrschbaren Territorium eine Art Experiment zu starten. Genau das passierte in der DDR. Dann gibt es eben Funktionsverteilung und Aufgabenverteilung.

Und diese Funktionsverteilung interessiert Sie künstlerisch.

Auch hier gibt es biografische Unterpolsterung. Mein Aufbruch, wenn Sie so wollen, begann im zweiten Studienjahr. Damals sind wir zu den Sozialistischen Weltfestspielen nach Sofia gefahren. Das war 1968. Und als wir zurückfuhren und mit dem letzten Zug am 21. August um fünf Uhr nach Prag reinkamen, rollten dort die russischen Panzer ein und besetzten Prag. Man hatte ja nie einen Panzer in Aktion gesehen, der auch schießt. Man hatte noch nie einen Toten gesehen, der an einem vorbeigetragen wird. Vier Tage sind wir geblieben. Das war für viele meiner Generation der Knackpunkt. Dann war Feierabend. Als Material für diese Vision waren wir verloren.

Nicht schon mit dem Mauerbau? Da schlug die Ideologie doch schon in offene Gewalt um?

(atmet tief durch) Das ist schwierig. Ich hab mit sieben angefangen, Tennis zu spielen, in einem Sportverein. Die großen DDR-Betriebe hatten ja Sportclubs, verschiedene Abteilungen, Fußball, Handball, Schwimmen – auch Tennis. Da war ein Punktspiel der Schülermannschaften. Man kam früh zum Umziehen, und dann tuschelten die Erwachsenen in der Umkleidekabine: „Na, schon gehört, Berlin ist zu.“ Das war am 13. August. Aber dann wurde normal Tennis gespielt.

Ich habe mir das wie den 11. September vorgestellt.

Nee, nee. In meiner Erinnerung ist es anders. Man kommt als Kind in seinem Tenniszeug da rein, und dann sagen sie: „Schon gehört, Berlin ist zu.“ Die haben natürlich auch gedacht, dass die Amis einmarschieren.

1961 herrschte Kalter Krieg.

Normale Leute denken nicht so abstrakt. Was Sie jetzt einnehmen, ist die Vogelperspektive des Weltenlenkers, des Demiurgen. Normale Leute haben ihre kleinen Interessen, überall. Man liest das ja immer mit Interesse, was zum Beispiel Götz Aly über den Nationalsozialismus schreibt. Wo es dieses Bemühen gibt, eine Erklärung zu finden, auf dieser materialistischen Ebene. Wo etwa gesagt wird: Das hat nur funktioniert, weil die sich alle bereichert haben. Das kommt mir doch auch wieder merkwürdig vor. Ich kann mir aber vorstellen, dass man damit zufrieden ist, weil man dann diese philosophisch-idealistisch-metaphysische Ebene rauslassen kann. Wenn man sich mit der beschäftigt und dann sagen müsste, da hätte etwas gegriffen oder da hätte es einen Kontakt gegeben zu etwas, was sehr viel älter ist als der Nationalsozialismus, wo die sich haben draufsetzen können, wo man also versucht hat, diese Kraftquelle zu reiten. Diese Vorstellung wäre nun wirklich bedrohlich.

Wo vermuten Sie Kontinuitäten?

Das liefe dann – analog zu Adorno/Horkheimer – auf diese ewige Angst hinaus, dass diese Archaismen immer wieder kurzzuschließen wären. Ich glaube, es ist diese Urangst, die mich beim „Netz“ oder jetzt bei diesen neueren Ausstellungsprojekten beschäftigt. Die Frage: Wie kann jemand diese Angst entwickeln? Das ist der Punkt, der auch zu diesem Systemischen führt, also der Frage nachzuspüren: Wie kommt jemand wie Trotzki zu seiner Haltung und Position? Aber auch: Was ist die Position meiner Mutter, dieser ganz einfachen normalen Leute? Zwischen diesen beiden Ebenen muss es nicht zwangsläufig eine Verbindung geben. Das ist alles ein bisschen komplizierter.

Auch Ihr neues Projekt befasst sich offenbar damit?

Ja, „Re-Reeducation“ wird eine Ausstellung über eine Ausstellung, genauer über eine Installation aus der Ausstellung „Software“, die 1970 in New York stattfand.

Worum ging es da?

Information, technology, its new meaning for art steht auf dem Cover des damaligen Ausstellungskatalogs. Es ging um Folgendes: Es gibt Systemtheorie, es gibt Informatik, es gibt Kybernetik. Es gibt neue wissenschaftliche Modelle, die auch eine künstlerische Relevanz haben, sogar eine gesellschaftspolitische Dimension. Das war die Zeit, als der 1968 unter anderem von Steward Brand gegründete „Whole Earth Catalog“ zur Kultpublikation für alternativen Lebensstil geworden war, in dem Schriften von Norbert Wiener, Buckminster Fuller, John Cage oder Henry Thoreau veröffentlicht wurden, und Brand gleichzeitig den Begriff „Personal Computer“ lancierte. „Hippies“ und „Hacker“ existierten nebeneinander.

Wir neigen heute dazu, Technologie und Ökoanarchie als durchaus gegensätzliche Lebenswelten zu betrachten. Hatte sich das 1970 noch nicht auseinanderdividiert?

Gegenfrage: Wieso kann man nicht sagen, dass die Anthroposophen etwa ein totalitäres Modell darstellen?

Kann man schon. Aber was hat das jetzt mit der besagten Ausstellung „Software“ zu tun?

Man kann doch innerhalb alternativer Strukturen, etwa einer Kommune – denken Sie an die Manson-Family –, eine faschistische Diktatur entwickeln, andererseits aber Teil eines staatlichen Versuchsprogramms sein. So wie Manson und ein paar seiner Leute, als ein solches Programm extra für Haight-Ashbury eingerichtet wurde. Da wurde eine eigene Klinik gegründet.

Wie bitte?!

Letztendlich ist das ein großer Laborversuch, mit vielen weißen Mäusen, weißen Mittelklasse-Mäusen (lacht) im übertragenen, in mehrfachem Sinne. 20.000 weiße Mäuse, ist doch wunderbar. Wo hat man die Chance, das mal auszuprobieren über einen längeren Zeitraum, was da passiert?

Ihre These wäre demnach?

Das ist nicht meine These. Es gibt immer Vielfältigkeiten und Spreizungen. Natürlich gab es unter den Hippies einen Flügel, der Technologieverzicht gepredigt hat, sozusagen der Waldläufer-Flügel. Auf der anderen Seite gab es den Technologie-Flügel. Beides schien möglich, um eine neue, eine Gegenwelt zu entwickeln. Die Ideen waren ein Mix verschiedener Utopien, verschiedener … Utopiate. Interessant ist, wieso man sich so täuschen kann. Das ist aber nun eine ganz alte Frage.

Wie meinen Sie das?

Man kann eine Vorstellung davon haben, dass man eben eine Gegenwelt errichtet – es ist einem aber anscheinend nicht möglich, zu erkennen, dass man gleichzeitig Teil einer Versuchsanordnung ist. Man hat nie zur gleichen Zeit die Draufsicht und die Eigenperspektive. Das halte ich für unmöglich. Die alte RAF-Regel „Zwischen uns und dem Feind (klopft bei jedem Wort mit einem Holzklötzchen auf den Tisch) eine klare Linie ziehen“ – das geht nicht, das gibt es nicht.

Man ist Maus, hält sich aber für einen Akteur.

Das ist aber eine normale Situation. Das passiert immer wieder. Es gibt viele Kollegen, die sagen: „Was du da immer siehst, diese Zusammenhänge, die gibt es gar nicht. Das ist alles offen, das ist alles frei.“ Da sind wir beim Punkt, um den es geht: Das ist letztlich eine Reklameveranstaltung für offene Systeme.

Sie meinen die Ausstellung „Software“?

Im Nachhinein kann man das so nüchtern und bösartig formulieren. Damals hat man natürlich gesagt: „Wir arbeiten an einer Utopie.“ Ja, aber wie kann man den Pferdefuß bei der Geschichte entdecken?! Niemand konnte damals wissen, dass beispielsweise diese Werbeagentur Ruder&Finn diese Macht entfalten würde. Damals war das doch eine sensationelle Idee: Nimm eine Werbeagentur und lass die die ganze PR für die Ausstellung machen, lass die Geld akquirieren, lass die Sponsoring betreiben.

Die Kunst wird enteignet.

Auch das, Autorenschaft wird verschwinden. Das hatte alles damals noch eine Ernsthaftigkeit, weil die dachten: Diese Grenze übersteigen, überspringen oder verschieben wir in eine Terra incognita, in das „gelobte Land“, letztlich so wie auch Trotzki oder wie der Pharao, der dachte: Da hinten, nur noch die eine Hürde übersteigen, dann lockt das Paradies.

Modern gesprochen: die Umformatierung des Menschen zu seinem eigenen Wohl, auch um ihn vor sich selbst zu schützen und von seinem fatalen Fasziniertsein durch die bösen Dinge.

So. Letztlich geht es um eine Säuberung, darum, die negativen Eigenschaften rauszukriegen. Operativ klingt schon ein bisschen nach Dr. Mabuse. Aber darum geht es: unblutig – ohne Operation, so wie Blutwäsche – das Böse auszuwaschen. Nicht nur Gehirnwäsche, daher kommt das ja. Die bösen Eigenschaften neu modellieren, neu formatieren. Standardisieren kommt dann als Folgebegriff.

Läuft das nicht auf eine andere Form von Züchtung hinaus?

Sagen wir mal so: Die Amerikaner haben 1945 ja nicht nur die deutschen Raketenspezialisten geholt. Die haben sich auch die Biogenetiker geholt.

Und über die neue Wissenschaft Kybernetik erfolgte dann der Methodensprung von der Biologie zur Verhaltensmodellierung?

Zur education, ja, mit feineren Werkzeugen. Dabei lag die Vorstellung zugrunde, eine bessere, harmonische, friedliche, glückliche Welt – die auch die amerikanische Verfassung als Rechtsanspruch formuliert – mit modernsten Mitteln, die die wissenschaftliche Technologie bereitstellt, zu formen. Das war eine glückliche Phase, weil durch den Krieg so viel Geld in diese Forschung geflossen ist und so viele neue Erkenntnisse gewonnen und Modelle in Psychologie, Psychiatrie, in der Verhaltensforschung entwickelt werden konnten, dass man dann sagte: „Jetzt, im Frieden, setzen wir das auch um.“

Methoden der psychologischen Kriegführung, appliziert auf Friedenszeiten. Färbt das Militärische nicht ab?

Das ist eine merkwürdige Geschichte. Wir wissen ja, dass viele Leute der Frankfurter Schule für das Office of Strategic Services (OSS) gearbeitet haben, das war der Vorläufer des CIA. Die haben im Krieg gegen den Faschismus gearbeitet, durch Sabotage, Desinformation des Gegners, nicht wahr. Da hat Gregory Bateson gearbeitet, Herbert Marcuse und so weiter. Dazu hat mir Günter Amendt geschrieben, das sei irgendwie bekannt gewesen, weil man nach dem Krieg versucht hat, dem Marcuse einen Strick daraus zu drehen in Frankfurt, als massive antiamerikanische Ressentiments aufkamen wegen des Vietnamkriegs. Man hat damals nicht gesehen, dass der Vietnamkrieg letztendlich die konsequente Fortführung von strategischem Denken ist, das im Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde, foreign containment und so weiter.

Diesen fließenden Übergang, also die Anwendung von militärischen Technologien in zivilen Kontexten, etwa in der Kunst, thematisierten Sie ja 2004 in Ihrem Film „Das Netz“. Ich fand das sehr unheimlich.

Mit dem Film habe ich interessante Veranstaltungen erlebt. Ich bin ja mit ihm ganz bewusst auch auf Medienkunstfestivals gegangen, weil dort die Leute sitzen, die ab Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger auf diese Technologieschiene eingestiegen sind, in dem Sinne, dass man sagte: „Da kommen Werkzeuge, die uns den Paradigmenwechsel im positiven Sinne ermöglichen werden. Da müssen wir nur weitermachen, Medienkunst, Computerkunst …“ Dabei haben sie nicht gesehen, dass sie letztendlich die Trüffelschweine waren für diesen ganzen Mist und Schrott, der jetzt unseren Medienalltag bestimmt.

Wie wurde der Film aufgenommen?

Da gab es zum Teil sehr schöne Diskussionen, wo dann aus dem Publikum Meldungen kamen wie: „Aber Herr Prof. Dr. Sowieso, vor fünf Jahren haben Sie doch noch dieses und jenes geschrieben, und jetzt bringen Sie so eine zurückhaltende oder so eine retardierende Polemik? Das ist doch widersprüchlich, was ist passiert?!“ In Graz stammelte einer: „Ja, aber wenn die alle in diese Programme involviert waren, wer hat dann … Es muss doch jemand …?“ Irgendwo schrie dann einer: „Es gibt niemanden. Das sind doch unsere Heroen, Margaret Mead, Gregory Bateson, Ross Ashby … Es gibt niemand anders. Das sind sie, auf die wir uns immer berufen haben, und jetzt müssen wir eben einsehen: So sieht die Realität aus.“ Das ist ja auch nicht schlimm, weil: Das sind eben auch bloß Menschen.

Das meinen Sie nicht im Ernst.

Doch, doch! Denken Sie an den Anfang unseres Gesprächs, als es um den Osten ging und um diese Erfahrung: Es hat immer alles etwas zu bedeuten. Du kriegst nichts umsonst. Du musst dir überlegen, was willst du dafür bezahlen. Wenn Sie sich einmal hier dieses schöne Büchlein anschauen, das ich auf der bevorstehenden Ausstellung auslegen werde, mit dem Titel „On the Future of Art, sponsored by the Solomon Guggenheim Museum“, da gibt es Beiträge unter anderem von Toynbee, Skinner, Burnham oder Marcuse. Das ist von 1971. Ich fand es klasse, dass Frederic Skinner mit drin ist. Den möchten sie nämlich nachträglich gerne unterschlagen, weil der inzwischen fast eine kompromittierende Person ist.

Kann ich nicht einordnen.

Nein?! Hardcore-Behaviorist, Skinnerbox?!? Na, da wird Ihnen richtig schlecht. Der hat in diese Box sogar sein Baby reingelegt. Das ist eine Reflexmaschine, Behaviorismus pur.

Hat das was mit Pawlow und den gleichnamigen Reflexen zu tun?

Skinner ist die Antwort der Amerikaner auf Pawlow. Es geht um den experimentellen Zusammenhang von Reiz, Reaktion und Belohnung. Das sind Erziehungsapparate eigentlich. In diesen Kontext gehören auch der „Software“-Kurator Jack Burnham und das Lincoln-Lab, ein outgesourctes Labor vom MIT, in dem explizit für militärische Zwecke geforscht wurde und wo Burnham unter anderem hospitiert hat.

Und in diesem Buch also schreibt Burnham zusammen mit Skinner und anderen Künstlern?

Genau! Das war ein neuer Ansatz in der Kunst, der sich sowohl von Autorenschaft wie von Genre-Bindungen löst, der auf wissenschaftliche Methoden, Erkenntnismethoden vertraut. Der auf Technologie setzt. Der auf dematerialisierte Kunst zusteuert und das letztendlich als Perspektive und als unausweichliche Zukunft sieht.

Was hat es mit der Skinner-Box auf sich?

Eigentlich wurde dieser Erziehungsapparat für Tauben und weiße Mäuse entwickelt. In der Box sind die jeweiligen „Insassen“ Reizen, also Lichtsignalen, zum Teil auch Stromstößen, Elektrostößen ausgesetzt und müssen dann irgendwo drücken. Dann kriegen sie eine Belohnung.

Und da hat Skinner sein Kind reingelegt?

In diese babycrib hat er seine Tochter reingelegt. Darüber hinaus hat er weitere Experimente gemacht, in Harvard, in diesem Science-Center. Im Keller dort habe ich auch gedreht. In den Studienräumen stehen große Vitrinen mit den ganzen alten Apparaten, Psychoacustic, Tauben-Apparate und so weiter. Aus der Zeit haben sie auch Filme, die wurden uns vorgeführt. Das ist für die Verhaltensforschung nichts Kompliziertes. Der Punkt ist, Skinner hat auch im Krieg gearbeitet. Da haben sie den Tauben kleine Bomben untergebunden und sie dann trainiert, wie kleine Flugzeuge als Waffenträger zu fungieren. Es gibt ein schönes Zitat, wo Skinner sagt: Wenn wir im Krieg diese Tauben so dressieren können, dann stehen uns alle Möglichkeiten offen, und wir können alles machen, um eine glückliche, friedliche Welt zu gestalten.

Puh!

Für die amerikanische Wissenschaft ist Skinner immer noch eine honorige Person. Für uns rückt er nach solchen Erzählungen, nach solchen Fotos, nach solchen Filmen in die Nähe von Kubricks „Dr. Seltsam“, nicht wahr? Ich glaube, wenn man Wissenschaftler ist und in diesen Versuchsanordnungen arbeitet, hat man wie ein Künstler sein Material und eine bestimmte Idee. Da ist man nicht darauf aus oder auch gar nicht in der Lage, immer Kontexte zu reflektieren.

Das wäre die Frage. Um 1970 lagen Experiment und die Instrumentalisierung des Experiments doch sehr nah beieinander.

Aber meinen Sie denn, dass diese Zusammenhänge offengelegen hätten wie im Faschismus oder in totalitären Staaten?! Gehen Sie ins Archiv vom WDR – oder war es der NDR? –, und gucken Sie sich die USA-Berichte von Peter von Zahn an. Sehen Sie sich die Berichte aus den USA an. Wie geht es da zu, wenn man Familie hat, wenn man einkaufen geht? Das ist doch alles wunderbar. Wie kann denn da jemand auf die Idee kommen, dass das irgendwie Fassade wäre.

Die Künstler vielleicht?

Die sind doch nicht schlauer als die anderen. (lacht) Ich glaube das nicht. Wir bewegen uns mit dieser Art von Kunst in Bereiche hinein, die so speziell sind, die so viel wissenschaftliches Wissen voraussetzen, um diese Prozesse zu verstehen. Meinen Sie denn, dass in den 50er-, 60er-Jahren in New York auf jedem Nachttisch „Cybernetics“ von Norbert Wiener lag? Meinen Sie, dass von den ganzen Künstlern, die sich alle darauf berufen, auch nur zehn Prozent verstanden haben, um was es da ging? Hat man wirklich verstanden, worüber auf dieser Macy-Konferenz und im kalifornischen Esoterik-Center Esalen referiert wurde, diese Mathematisierung der Welt?

Immerhin so viel: Die Menschen sollten daran gewöhnt werden, Material zu sein.

Für eine glänzende Utopie! Ich hab mir das immer so erklärt, dass das für diese Leute wie Otto Piene oder Hans Haacke, die am MIT tätig waren und bei der Ausstellung „Software“ mitgemacht haben, eine großartige Gelegenheit war, dieser ganzen tristen Nachkriegsursachenforschung zu entgehen, indem man in diese wunderbare Welt von 1 und 0, der Opalka’schen Zahlen, der Buren’schen Streifen, der Rasterbilder, der Zero’schen Lichtreflexe eintauchen konnte, wo es anscheinend auch gar keine Inhalte mehr gab.

Die britische Op-Art-Künstlerin Bridget Riley hat es sinngemäß so formuliert, es gehe dieser Kunst um Überwältigung, darum, in die Wahrnehmung und die Bewusstseinsprozesse des Betrachters einzubrechen.

Das sind Effekte.

Das sind Gewaltfantasien.

Das ist für Künstler aber eine interessante Sache, diese Art von Effekten, diese Verwirrung, diese Auflösung. Wo man natürlich immer fragen muss: „Ja und dann …? Das wird jetzt neu geordnet – und wohin soll die Reise dann gehen?“ Die Theosophen können Ihnen das dann sagen …

Ist das eine ernsthafte Option: Ich spiele mit Effekten, und im Hintergrund werden die Fäden gezogen?

Man kriegte doch was versprochen. Was den Leuten damals vorschwebte, waren doch wunderbare Utopien! Was war denn vorher? Gucken Sie sich die Malerei oder die Architektur an, die bis 1945 im Grunde genommen in Europa die Dominanz hatte. Werner Spieß würde sagen, Arno Breker und die große Ausstellung im Palais Chaillot war die Antwort auf die Moderne, auf die Moderne an sich. Man antwortete mit einer nationalistischen, von mir aus ägyptischen oder pharaonenhaften Neoklassizität, die das wieder ordnet, das Auseinanderstrebende. Die Moderne möchte die Pulverisierung.

Die Dekonstruktion.

Erst mal alles pulverisieren. Nun ist bloß die Frage: Wo ist denn der Plan für danach? Das war sozusagen absehbar, dass dieser Gegenreflex kommt, wo man sich auflehnte und versuchte, die Fliehkräfte zu bändigen, wieder ein Zentrum zu bilden. Das ist grandios gescheitert und hat eine negative Etikettierung erfahren, Reinheit, Ordnung, Mythos, Metaphysik, diese ganzen Geschichten. Jetzt müssen Sie sich überlegen, welche Perspektive Sie einnehmen wollen. Wir hatten vorhin die Perspektive dieser Künstler, die, wenn sie an dieser Ausstellung „Software“ teilnehmen, gar nicht gemerkt haben …

dass sie Schachfiguren sind in einem fremden Spiel.

Na, das haben die schon gemerkt. Aber die mussten sich auch entscheiden, was ist der Trend, wo läuft der Hase hin, um es mal ganz einfach zu sagen. Jemand, der sich für Lichtkunst interessiert und nicht mehr malen will, für den ist das Aufkommen der Op-Art eine interessante Sache. Das steht alles für das offene System gegenüber einem alten, starren, reglementierenden, geschlossenen System.

Jackson Pollock zum Beispiel wurde von Regierungsprogrammen und vom CIA gesponsert.

Ich kann Ihnen sagen, was diese Leute antworten werden: „Das ist mir doch egal. Wir haben einfach gemacht, was wir wollten.“ Das ist doch die Heiner-Müller-Verteidigungslinie, der sagt: „Na ja, ich hab mich zwar mit denen getroffen, aber letztendlich hab ich die geführt und nicht die mich.“

Mit wem getroffen?

Stasi. Es gibt immer mehrere Perspektiven. Er hat sich mit denen treffen müssen, sonst wäre es aus gewesen mit Westtreffen, Schluss mit lustig, mit in Frankfurt am Main am Kamin sitzen oder Stücke aufführen können oder abends nach Westberlin in die Paris Bar und dann wieder in seinen tristen Neubaublock zurückfahren, am Arsch der Welt in Ostberlin.

Das war der Osten.

Nein, das ist eine klassische Situation. Das ist so, dass Sie in Gebrauch genommen werden, dass damit operiert wird. Da fragt man sich nun: Wie aufmerksam müsste ich als Künstler sein? Wie viel Prozent meiner Energie, meiner Zeitressourcen soll ich für die Wachsamkeit aufwenden? Oder soll ich einfach produzieren? Es gibt in jeder Biografie dieselben Brüche und Reibungsflächen – egal wo die stattfindet. Also ist die Frage: Was kann man wissen? Analog dazu die Frage: Konnte man wissen, wer Skinner war oder wie Kybernetik und Systemtheorie funktionieren? Natürlich konnte man das wissen, weil Jack Burnham das selber erzählt hat – im Grunde war der US-Verteidigungsminister Robert McNamara der größte Systemtheoretiker, der hat das alles für das Militär reklamiert, logisch. Diese Entscheidungen sind immer dieselben, und sie finden immer wieder statt, und jeder hat seinen Spielraum, den er sich finanziell, kräftemäßig, mental …

zutraut.

… leisten kann! Nehmen Sie die Recherche für „Das „Netz“. Ich hab im MoMA gesessen, im Guggenheim und so weiter. Wenn Sie diese Buchten, diese Karnickelställe sehen, in denen die Leute dort sitzen müssen, und wie hart es da zugeht, unter welchem Druck die Leute agieren, dagegen ist eine Skinner-Box ein Luxusapartment. Da gibt es keine begrünte Zone zum Reflektieren, was wir hier jetzt so wunderbar und locker machen können.

Wenn ich für bare Münze nähme, was Sie sagen, dann wäre Freiheit eine Fata Morgana.

(lacht): Wenn Sie sich frei fühlen, ist das doch okay. Wenn Sie’s wissen, haben Sie ein Problem. Der Punkt ist doch das Vergessen. Wie kann ich nicht immer dran denken, dass ich nicht verrückt werde? Das schaffen eben einige nicht. Wenn jemand sagt: „Mensch, du mit deinem Film, denkst du denn immer über solche Probleme nach?“, muss ich sagen: Nein, natürlich nicht, sonst wäre ich ja schon lange verrückt. Das ist – wie soll ich sagen – eine glückliche Fügung oder Konstitution, die mir ein normales Leben ermöglicht.

NIKE BREYER, 51, ist freie Autorin in Marburg/Lahn. BERTRAM KOBER, Jahrgang 1961, lebt als Fotograf in Leipzig. Er ist Gründungsmitglied der Agentur PUNCTUM; Dammbecks Werk hat er bereits mehrfach dokumentiert

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