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Kapitän ohne Binde

Jamie Carragher wird sich heute Abend im Finale der Champions League den Angreifern des AC Milan in den Weg stellen. Der Innenverteidiger ist so etwas wie das Rückgrat des FC Liverpool

AUS ATHEN RAPHAEL HONIGSTEIN

Eines der Lieblingslieder des Kop, der nach einer verlustreichen Schlacht im Burenkrieg benannten Tribüne der treuesten Liverpool-Fans, ist „Yellow Submarine“ von den Beatles. Allerdings mit leicht verändertem Text: „We want a team of eleven Carraghers, eleven Carraghers“, wird dort intoniert. Jamie Carragher ist das immer ein bisschen peinlich. Der 29-Jährige ist nämlich Innenverteidiger, und eine Mannschaft mit elf Innenverteidigern würde ihn als Freund des gepflegten Balles eher nicht begeistern. „Der AC Milan ist meine europäische Lieblingsmannschaft“, erzählt er in der „Legends Lounge“ des Stadions den staunenden Reportern, die lieber eine Kampfansage an den Gegner im Finale (20.45 Uhr, DSF) hören würden. „Es ist halt so“, zuckt er mit den Schultern.

„Carra“, wie sie ihn an der Mersey rufen, ist neben dem Kapitän Steven Gerrard der einzige echte Scouser (Liverpooler) in der Stammelf und der absolute Lieblingsspieler bei den Fans. Für seinen bedingungslosen Kampfgeist wird er vergöttert; eine Szene in der Verlängerung vor zwei Jahren, in der sich von Krämpfen geschüttelt mit dem letzten Quäntchen Energie in zwei Mailänder Schüsse hechtete, ist fest im kollektiven Gedächtnis verankert. Als „23 Carra Gold“ rühmen sie den Mann mit der 23 auf dem Rücken. Im benítesken Stahlriegel ist er ein verschämt glänzendes Stückchen Edelmetall. „Er ist der Kapitän ohne Armband“, hat Gerrard über seinen Kumpel gesagt.

Im Gegensatz zum latent miesepetrigen Gerrard hat er sich Carragher seine Lockerheit bewahrt. Als junger Spieler zog er einst jede Nacht um die Häuser und sorgte bei der Weihnachtsfeier für Aufsehen: Er war als Glöckner von Notre Dame verkleidet und konnte vor der versammelten Mannschaft nicht den Reizen einer Stripperin widerstehen. In der Nacht nach dem Halbfinalsieg gegen den FC Chelsea wurde er um fünf Uhr früh in einem dieser Imbissläden unweit vom Stadion entdeckt, in denen Blut, Schweiß und Tränen von 100 Europapokalnächten am Boden kleben. Die Carraghers sind dafür bekannt, das Beste aus dem Leben zu machen. Zwei Brüder von „Carra“ verließen die englische WM-Unterkunft mit Ballen von Hotelhandtüchern unter den Armen. So etwas ist an der Mersey erlaubt, solange man sich nicht erwischen lässt.

Carragher wird nach dem Finale einen neuen Fünf-Jahres-Vertrag unterzeichnen und seine Karriere in Anfield beenden. Im Herbst wird er sein 500. Spiel für die Roten absolvieren. Die Tore schießen andere, doch Carra ist das Rückgrat einer Mannschaft, die in Europa konstant über ihre Verhältnisse spielt, weil Benítez sie nach den Gesetzen der Innenverteidigung ausgerichtet hat. „Liverpool ist sehr gut organisiert und sie haben eine außerordentliche Fähigkeit, sich zu konzentrieren“, sagt Milan-Trainer Carlo Ancelotti.

Auch für Carraghers Geschmack ist die Defensive eine Spur zu stilbildend. „Manchester United und Chelsea sind bessere Mannschaften, das steht in der Tabelle“, sagt er, „uns fehlt in der Liga ein wenig die Durchsetzungskraft und die Geschwindigkeit.“ In Europa, wo kleinlicher gepfiffen wird, könne man dieses Defizit jedoch mit Taktik und Köpfchen ausgleichen, sagt er. Wie gut er das macht, fällt schon dadurch auf, dass er nicht auffällt: Im laufenden Wettbewerb hat er ganze sieben Fouls begangen. Die meiste Arbeit verrichtet er, lange bevor der Ball in seine Nähe kommt. Milan aber wird mit Macht kommen, er weiß das. „Ich hoffe, dass Kaká vom Mittelfeld übernommen wird“, witzelt er mit säuselnder Stimme.

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