cannes cannes: Sexy wie Ulrike Meinhof
Fatih Akins Film „Auf der anderen Seite“ schwankt zwischen Konstruktionsanstrengung und inszenatorischer Kraft
Fatih Akin macht eine gute Figur. Zur Pressekonferenz seines Wettbewerbsbeitrags „Auf der anderen Seite“ trägt er ein schlichtes graues T-Shirt, die Sonnenbrille hat er ins Haar geschoben, sein Blick ist offen, seine Augen strahlen. Auf Fragen antwortet er gerne mit „This is a very good question“, im Anschluss sagt er lässige Sätze wie: „Goethe was my man.“ Oder: „Political resistance can be very sexy, like Ulrike Meinhof was.“ Rechts neben ihm sitzt, in weißem weitem Oberteil und sandfarbenem Foulard, Hanna Schygulla, eine der Darstellerinnen in „Auf der anderen Seite“. Wie sie Akin kennen gelernt habe, will ein Journalist wissen. „Als er den Preis in Berlin gewann, erinnerte er mich sehr an Fassbinder.“ Bei einem Filmfestival in Belgrad seien sie sich dann persönlich begegnet – und hätten sich so vieles zu sagen gehabt. Als sie das Drehbuch zu Akins neuem Film gelesen habe, sei sie beeindruckt gewesen, weil ein junger Regisseur eine existenzielle Frage aufwirft, nämlich die, „wie der Tod zum Leben gehört und wie wir damit umgehen“.
In „Auf der anderen Seite“ sterben zwei Frauen, die Prostituierte Yeter (Nursel Köse) und die Studentin Lotte (Patrycia Ziolkowska). Um Goethe geht es in einer Szene, die an zwei unterschiedlichen Stellen des Filmes auftaucht und mithin einen Zeitloop suggeriert. Der Germanistikprofessor Nejat (Baki Davrak) erklärt seinen Studenten, warum Goethe von Revolutionen nichts hielt, und zitiert: „Wer wollte schon die Rose im Winter blühen sehen?“ Und: „Es geht so vieles Altes und Bewährtes kaputt wie Neues geschaffen wird.“ Ulrike Meinhof kommt nur in der Frage einer schwedischen Journalistin vor, im Film ist von der RAF keine Rede. Dort begegnet man stattdessen der jungen, in der Tat sehr attraktiven Politaktivistin Ayten (Nurgul Yesilcay). Nachdem sie bei einer Demonstration in Besitz einer Waffe gekommen und von der Polizei identifiziert worden ist, muss sie Istanbul verlassen; ihr Weg führt sie nach Hamburg und nach Bremen.
Die Geschichten von Yeter, Nejat, Ayten, Lotte und zwei weiteren Figuren – Nejats Vater Ali (Tuncel Kurtiz) und Lottes Mutter Susanne (Hanna Schygulla) – überkreuzen und überlagern sich. Der Zuschauer des Films weiß das früh, die Figuren erfahren es zum Teil bis zum Ende nicht. Symptomatisch dafür sind Einstellungen, in denen es zu zufälligen, folgenlosen Begegnungen kommt. Man teilt die Leinwand und verpasst sich trotzdem. Einmal zum Beispiel fahren Lotte und Ayten im Auto durch Bremen, man sieht sie im Innenraum; als sich der Bildausschnitt vergrößert, kommt eine Straßenbahn hinzu. Darin sitzen Nejat und Yeter. Tram und Auto fahren in dieselbe Richtung, die Figuren sind auf der Suche nacheinander; doch sie verpassen sich.
So bewegen sie sich zwischen Bremen, Hamburg, Istanbul und der Schwarzmeerküste, zwischen Gefängnis und Freiheit, zwischen Verständnis und Unverständnis füreinander. Um all dies zu orchestrieren, vollbringt Akin eine gewaltige Konstruktionsanstrengung. In „Auf der anderen Seite“ geschieht viel, und vieles davon nur, weil es zur Motivation des Folgenden benötigt wird. Durch je mehr Handlung der Film hindurchmuss, desto weniger konzentriert er sich auf die Empfindungen der Figuren, auf ihre Trauer, auf das, was sie innerlich bewältigen, wenn sie mit Tod, Verlust und anderen einschneidenden Ereignissen konfrontiert sind. Manchmal ist das, als verliere Akin beim Ausbreiten seiner Erzählfäden das Wesentliche aus dem Blick, als ließe der aufwändige Plot der Mise en Scène keine Luft zum Atmen. In anderen Augenblicken zeigt sich Akins inszenatorische Kraft in voller Größe – etwa dann, wenn Yeter und Lotte zu Tode kommen. Sie sterben aus Zufall, aber nicht mit natürlicher Ursache; die jeweiligen Szenen machen nicht viel Aufhebens, sie sind trocken, undramatisch, wie ein kurzer, kräftiger Stoß. Schon ist es vorbei. CRISTINA NORD
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