: Wenn zwanghaft hungern krank macht
MAGERSUCHT Sind Magermodels oder die familiären Verhältnisse schuld? Nein, krank wird nur, wer eine genetische Prägung hat
VON KATHRIN BURGER
Hungern für die schlanke Linie – das tut sich heute jedes zweite pubertierende Mädchen an. Denn wer rank und schlank ist, der gefällt, entspricht dem gängigen Schönheitsideal, Dicke gelten dagegen als faul und dumm. Doch was ist der Auslöser dafür, dass manchen Mädchen dünn nicht dünn genug ist? Was treibt jedes 100. bis 200. Kind in die Magersucht, die sie ausmergelt, depressiv und auch einsam macht und manchmal sogar tödlich endet?
Früher hatten Experten darauf vor allem soziopsychologische Antworten parat. Heute, mithilfe von Gen- und Hirnstudien wird jedoch immer deutlicher: Magersucht, Anorexia nervosa, ist eine neuronale Entwicklungsstörung und trifft darum nur Pubertierende, die bestimmte genetische Voraussetzungen mitbringen. Leidet beispielsweise ein eineiiger Zwilling unter Magersucht, entwickeln fast zwei von drei der gleichaltrigen Geschwister auch diese Essstörung. Bei zweieiigen ist es jeder Zehnte. Laut Esther Biedert, Psychologin an der Universität Basel, erklären genetische Faktoren 58 bis 76 Prozent der Anfälligkeit.
Wissenschaftler haben beispielsweise Veränderungen im Serotoninstoffwechsel geortet. Eine Variante im 5-HT-Rezeptorgen kommt in einigen Familien gehäuft vor, was laut Experten teilweise die ängstliche und zwanghafte Verhaltensweise von Magersüchtigen erklärt, die häufig schon lange vor der Erkrankung auftreten.
„Die betroffenen Mädchen sind auffällig ängstlich, ungemein ordentlich und leiden unter Putz- oder Sortierzwängen“, so Beate Herpertz-Dahlmann, Psychiaterin am Universitätsklinikum Aachen.
Andere Studien belegten Auffälligkeiten im Dopamin-Stoffwechsel, die zu einem Dopamin-Mangel führen. Mit der Folge, dass Magersüchtige augenscheinlich keinen Genuss beim Essen empfinden, ohne Probleme der Sahnetorte widerstehen können. Auch das BDNF-Gen ist in den Fokus der Magersucht-Forscher geraten. Es ist bei der Entstehung von Depressionen und Angststörungen beteiligt.
Das „Anorexie-Gen“ gibt es allerdings nicht. „Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass zahlreiche genetische Varianten in unterschiedlichem Ausmaß zu der Pathologie beitragen“, so Helge Frieling, Mediziner am Universitätskrankenhaus Erlangen.
Dass das Gehirn von essgestörten Patienten anders tickt, zeigen auch aktuelle Studien mithilfe von bildgebenden Verfahren. Hans-Christoph Friederich, Psychologe an der Universität Heidelberg, hat beispielsweise 30 Frauen einem Test unterzogen, bei dem sie zeigen sollten, wie gut sie sich an neue, nicht der Routine entsprechende Gegebenheiten anpassen können.
Magersüchtige hielten dabei häufiger als gesunde Probandinnen am vertrauten Muster fest und unterdrückten alternatives Verhalten. Der Magnetresonanztomograf deckte auf, dass bei den magersüchtigen Patientinnen ein bestimmter Netzwerkpfad zwischen Groß- und Zwischenhirn, das sogenannte fronto-striatale Schleifensystem weniger aktiv war als bei der Gruppe der Normalesserinnen. „Dieser ist wichtig, wenn der Mensch sich an sich ändernde Umweltbedingungen anpassen muss“, so Friederich.
Jedoch verändert auch das Hungern verschiedene Stellgrößen im Gehirn. Aus Studien mit Kriegsdienstverweigerern in den USA und aus den schrecklichen Erfahrungen mit Konzentrationslagern weiß man: Wer lange Zeit Hunger darbt, wird zwangsläufig irgendwann depressiv, ängstlich und neigt zu zwanghaftem Verhalten. Hungern führt zudem auch zu Unruhe und Bewegungsdrang und fördert die übermäßige Beschäftigung mit dem Essen. Welche Symptome der Magersucht also genetisch programmiert sind und welche erst durch das Hungern entstehen, ist für den Kliniker oft schwer auseinanderzuhalten.
Viele dieser Symptome bilden sich nach der Genesung wieder zurück. Allerdings wird neuerdings diskutiert, ob nicht möglicherweise biologische Narben im Gehirn zurückbleiben – immerhin kommt durch das Hungern die Östrogenbildung fast völlig zum Erliegen, teilweise jahrelang. Dies ist auch der Grund, warum bei magersüchtigen Mädchen die Regelblutung ausbleibt. Östrogen ist jedoch wichtig für die Gehirnreifung in der Pubertät.
Mehrere Studien haben einen Rückgang der Gehirnmasse bei magersüchtigen Patientinnen nachgewiesen. Zudem schnitten ehemals Magersüchtige bei sprachlichen, mathematischen und Gedächtnistests schlechter ab als Gesunde. Und: bei Geheilten treten häufiger psychische Störungen wie Depressionen, Zwangserkrankungen und Borderline-Störung auf – möglicherweise auch eine Folge des langen Darbens.
Umso wichtiger ist es, Therapien zu verbessern. Der Wissenschaftler Friederich will dies mithilfe der neurobiologischen Erkenntnisse erreichen. Spielerisch könnten die Patienten in einem Trainingsprogramm lernen, nicht so starr an ihrem Verhalten festzuhalten – eine Pilotstudie an seinem Heidelberger Institut läuft bereits. „Das könnte als Zusatzmodul in einem psychotherapeutischen Programm angeboten werden“, so Friederich. Bislang sind die Erfolge der Behandlungen nämlich eher spärlich. Psychotherapie ist jedoch die einzig wirksame Behandlungsmethode.
Das ist so, weil trotz allem die Krankheit immer noch als multifaktoriell bedingt gilt: zu einer genetischen Determinierung müssen also andere Faktoren hinzukommen, damit die Krankheit manifest wird. Das kann eine traumatisierende Geburt sein, eine autoritäre Mutter, ein Missbrauch oder eben das Bild der Frau in den Medien, dem man nacheifern will. Diese Auslöser können in einer Therapie aufgedeckt werden und das erleichtert eine Heilung.
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