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Zu früh aus der Klinik entlassen

PFLEGEFALL Familienangehörige sind zumeist überfordert, wenn sie plötzlich zu Hause einen schweren Pflegefall versorgen müssen

96 Prozent der Teilnehmer fühlen sich durch die Pflegetrainings „gut“ oder „eher gut“ vorbereitet Versicherte haben einen Rechtsanspruch auf professionelles „Versorgungsmanagement“

VON KLAUS-PETER GÖRLITZER

Ein Modellprogramm in Nordrhein-Westfalen und Hamburg unterstützt Familien, die Angehörige nach der Entlassung aus dem Krankenhaus dauerhaft zu Hause pflegen wollen. Das Projekt reagiert auf Härten des Fallpauschalensystems.

Eine Hauptdiagnose, eine Behandlungsform, eine Verweildauer, ein Entgelt – das ist das Prinzip, das seit 2004 in Deutschlands Kliniken grundsätzlich gilt. Seitdem wird nach diagnoseorientierten Fallpauschalen (G-DRG) abgerechnet und bezahlt – nicht mehr nach der Anzahl der Liegetage der Patienten.

Laut AOK-Bundesverband haben Deutschlands Kliniken das neue System „für sich genutzt“; sie haben ihre Produktivität gesteigert und Kapazitäten abgebaut: 7,1 Prozent der Betten seien zwischen 2003 und 2008 entfallen. Im selben Zeitraum sei die Zahl der Patienten um 1,3 Prozent gewachsen, ihre Klinikverweildauer aber um 8,3 Prozent gesunken. „Kliniken stellen sich dem Markt – weitere Anpassung nötig“, lobt und mahnt zugleich das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO), und dessen leitender Forscher Jörg Friedrich sagt: „Studien zeigen Effzienzreserven in Milliardenhöhe.“

Was Kassen und kaufmännische Klinikchefs gut finden, muss Kranken nicht guttun. Die „neue ökonomische Logik“ des Fallpauschalensystems habe „gravierende Folgen besonders für ältere Pflegebedürftige und die sie versorgenden Familien“, warnen Wissenschaftlerinnen der Universität Bielefeld um Professorin Katharina Gröning. „Die Patienten verlassen die stationäre Versorgung früher und häufig auch weniger rekonvalesziert.“

So geraten nicht nur die Betroffenen unter Druck, sondern auch ihre Angehörigen. Denn sie müssen, noch im Krankenhaus und meist unvorbereitet, „zum Teil sehr schnell“ entscheiden, ob sie die häusliche Pflege anschließend selbst übernehmen wollen oder nicht. Kaum einer Familie sei aber wirklich klar, was auf sie zukommen wird, wenn sie einen Menschen dauerhaft versorgt, der bettlägerig ist, nicht mehr allein gehen kann oder mit chronischen Erkrankungen wie Demenz oder Parkinson lebt.

Gleichzeitig bestehe die Gefahr, warnen die Bielefelder Expertinnen, dass „suboptimale Unterstützungsleistungen“ von Kliniken dazu führen, dass mehr Menschen in Pflegeheime umsiedeln müssen als nötig.

Praktische Hilfen bietet das von der Erziehungswissenschaftlerin Gröning geleitete, 2004 gestartete Modellprogramm „Familiale Pflege unter den Bedingungen der G-DRGs“. Zielgruppe sind pflegende Ehepartner und Angehörige, mehr als 100 Krankenhäuser machen inzwischen mit, Geldgeber sind die AOKs in Nordrhein-Westfalen und Hamburg.

Das „Überleitungsmanagement“ soll im Idealfall so aussehen: Pflegekräfte kommen frühzeitig, also bereits Tage vor der angepeilten Entlassung, auf Patienten und Familien zu; außerdem werden sie von „Case-Managern“ angesprochen, die minutiös erklären, welche pflegerischen Alternativen nach dem Klinikaufenthalt möglich sind und wie man diese beantragt.

In den Folgetagen leiten Fachkräfte die Angehörigen in mehreren Trainings an, wobei direkt am Klinikbett grundlegende Pflegetechniken erläutert werden. Geübt wird, wie man Menschen ins Bett legen, sie geschickt drehen und Druckgeschwüre vermeiden kann; gezeigt werden Vorbeugestrategien gegen Stürze, diverse Bewegungstechniken, der Umgang mit Rollstühlen oder Hilfsmitteln bei Inkontinenz.

Die Modellinitiatorinnen wollen aber nicht nur Handgriffe und Techniken vermitteln. Wichtig ist ihnen auch, eine „angenehme Atmosphäre“ zu ermöglichen, die Familien genügend Zeit lässt, Fragen, Bedürfnisse und Ängste offen auszusprechen. Pflegekräfte sollen gut zuhören und vor allem deutlich machen, dass Menschen nicht allein gelassen werden, wenn es zu Schwierigkeiten kommen sollte.

Tatsächlich endet die Unterstützung nicht am letzten Kliniktag; zum Modellprogramm gehören auch „aufsuchende Pflegetrainings“ in der Wohnung des Pflegebedürftigen. Bei solchen Hausbesuchen, die das Projekt in den ersten sechs Wochen nach der Entlassung gratis anbietet, sollen die Trainer auch darauf achten, ob alle notwendigen Hilfsmittel wie Roll- oder Toilettenstühle vor Ort sind. Unterstützung leisten sie bei Anträgen an Kranken- oder Pflegekassen, und sie überlegen mit den Familien, wie die Pflegearbeit bestmöglich an ihren Tagesablauf angepasst werden kann.

In Kooperation mit Bildungseinrichtungen gibt es zudem Pflegekurse, die auch auf psychosoziale Belastungen eingehen; aufgrund ihrer „24-Stunden-Zuständigkeit“ sind pflegende Angehörige tendenziell gefährdet, ihre eigenen Bedürfnisse und Beziehungen zu vernachlässigen. Die Kurse sollen möglichst in Gesprächskreise münden, die Gelegenheit zum Austausch von Erfahrungen bieten.

Die Angebote des Modellprogramms erreichten im Jahr 2008 insgesamt 1.431 Angehörige. Das Konzept habe sich „bewährt“, 96 Prozent der Teilnehmer fühlen sich durch die Pflegetrainings „gut“ oder „eher gut“ vorbereitet, bilanziert der Evaluationsbericht der Universität Bielefeld.

Dass dieses Modell aber noch einem Tropfen auf den heißen Stein gleicht, verdeutlicht die Tatsache, dass allein in Nordrhein-Westfalen rund 200.000 Menschen ausschließlich von ihren Familienangehörigen gepflegt werden.

Laut Sozialgesetzbuch haben Versicherte einen Rechtsanspruch auf professionelles „Versorgungsmanagement“. Dies verpflichte Kliniken faktisch dazu, „Brücken zur nachstationären Versorgung zu bauen“, schreiben die Modellmacherinnen. Auch hätten Krankenhäuser „ein hohes Eigeninteresse“, Patienten „bedarfsgerecht und gut koordiniert“ in ihre Wohnung überzuleiten.

Passiere dies nicht, drohe der sogenannte „Drehtüreffekt“, schreiben die Bielefelder Wissenschaftlerinnen. Gemeint sind Wiedereinweisungen von Patienten, die besonders häufig in der ersten Woche nach ihrer Entlassung vorkämen, wenn die Überleitung in die häusliche Pflege schlecht vorbereitet worden sei. Der Drehtüreffekt sei nicht nur „ökonomisch kontraindiziert“, er schade auf Dauer auch dem Ansehen auffälliger Kliniken.

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