piwik no script img

Archiv-Artikel

Man beachte: Artikel 3 GG

INKLUSION Von der Erziehung zur globalpolitischen Aussage: Die Begriffe Inklusion und Integration werden derzeit besonders von rechts strapaziert

Rudolf Walther

■ ist freier Publizist und lebt in Frankfurt am Main. 2013 erschien im Oktober Verlag Münster der Band „Aufgreifen, begreifen, angreifen“. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle über den Front National (taz vom 23. 6. 2014).

Aus unterschiedlichen Gründen hängen die Begriffe „Integration“ und „Inklusion“ am medialen Schwungrad. Den bisherigen Höhepunkt markiert Nikolaus Horn in der Bild am Sonntag mit der abstrusen Behauptung, der Islam bilde ein „Integrationshindernis“.

Auch das pädagogische Konzept der Inklusion, also der gemeinsame Unterricht behinderter und nicht behinderter Kinder, kam unter Beschuss. Liberale vermuten dahinter den ganz alten Teufel des Neoliberalismus und Konservatismus: die Gleichmacherei.

Inklusion folgt auf Integration

Das pädagogische Konzept der „Inklusion“, das auf der UN-Behindertenkonvention beruht, die die Bundesrepublik Deutschland am 24. 2. 2009 ratifiziert hat, folgt auf jenes, das früher „Integration“ hieß. Von diesem Begriff kamen aufgeklärte Pädagogen ab und sprachen lieber vom „gemeinsamen Unterricht“ für behinderte und nicht behinderte Kinder, weil der Begriff „Integration“ (aus dem neulateinischen Wort „integratio“, also „Wiederherstellung des Ganzen“) auf eine „Vereinheitlichung“ bzw. Lösung von Differenziertem hindeutet. So verstandene Integration bedeutete Homogenisierung oder Assimilation von Unterschiedlichem. In der pädagogischen Praxis meinten „Integration“ und „gemeinsamer Unterricht“ aber nie solche ebenso grobianische wie aussichtslose Gleichmacherei, sondern genau das Gegenteil: Unterschiedliche Kinder sollten gleichzeitig unterschiedlich – nämlich je nach individueller Begabung und Lernmöglichkeit – unterrichtet werden. Im Fachjargon heißt dieses Konzept „Binnendifferenzierung“, das im Unterschied zur pädagogischen Fiktion eines homogenen Klassenverbands den Unterricht individualisiert.

Der Begriff „Inklusion“ hat den Vorteil, dass er mögliche, aber in der Praxis völlig irrelevante Anklänge an Gleichmacherei ausschließt. Auf einem anderen Blatt steht, dass Inklusion in der Schulpraxis nur langsam und mangelhaft ausgestattet umgesetzt wird. Inklusion als pädagogisches Konzept zielt auf die Einbeziehung aller – im Gegensatz zur selektiven Unterrichtung von Kindern in Förder-, Sonder- und Normalschulen. Insofern zeugt die Polemik Christian Geyers in der FAZ vom 22. 7. 2014 lediglich von völliger Ignoranz: „Nicht jeder kann alles. Und nicht jeder kann das, was er kann, genauso gut wie jemand anderer, der es besser kann. Die Pointe der Inklusionssemantik liegt aber darin, jeden Unterschied als Ungleichheit zu deuten und jede Ungleichheit als Ungerechtigkeit. So wird unter der regulativen Idee der ‚Vielfalt‘ ein egalitäres Anspruchsdenken installiert, das so weit geht, Unterschiede als solche möglichst gar nicht mehr namhaft zu machen.“

Geyer stimmt damit in den Refrain des neoliberalen Gassenhauers ein: keine „Gleichmacherei“, mehr „Leistungsbereitschaft“. Vor zwölf Jahren (6. 11. 2002) hörte sich das bei der FAZ-Bildungsexpertin Heike Schmoll so an: „Wenn Eltern ihren Säuglingen die Anstrengung des Saugens dadurch erleichtern, dass sie die Öffnung der Babyflasche vergrößern, legen sie den ersten Grundstein für mangelnde Leistungsbereitschaft.“

Steinzeitliche Ressentiments

Geyers Argumentation beruht auf Unkenntnis pädagogischer Theorie und Praxis, garniert mit steinzeitliberalen Ressentiments gegen ein Benachteiligungsverbot für Menschen mit Behinderungen, welches, wie Herbert Prantl in der Süddeutschen Zeitung jüngst dargelegt hat, aus dem Artikel 3 des Grundgesetzes hervorgeht: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ 1994 wurde dieser „revolutionärste Satz des Grundgesetzes“ (Prantl) im dritten Absatz um einen Grundsatz erweitert, den die UN-Behindertenkonvention von 2006 spezifiziert: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Geyer verspottet in seinem Furor grundgesetzlich garantierte Rechtsansprüche auf soziale Partizipation und Gleichbehandlung als „Heilsidee“ und „Erlösungsstrategie“, beschwört „einen positiven Begriff von Ungleichheit“ und warnt vor „Totalinklusion“. Er vertraut dabei auf den Sonderschulpädagogen Otto Speck, der Sonderschulkonzepte als „realistische Inklusionspädagogik“ anpreist. Deren „Realismus“ besteht aber nur in der „wissenschaftlich“ drapierten, grundgesetzwidrigen Ausgrenzung behinderter Kinder.

Schlampig umgesetzt

Der Kampf der Konservativen gegen das pädagogische Konzept der „Inklusion“ ist ein Rückzugsgefecht, das nur zu gewinnen wäre, wenn der Staat es weiterhin so schlampig-geldsparend umsetzt wie bisher. Auf dem Feld der „Integration“, das sich von der Schule auf Ausländer, Asylsuchende und Flüchtlinge verlagert hat, geht es um Konfliktbearbeitung mit dem Brandbeschleuniger à la mode: Wenn die BamS den Islam pauschal als „Integrationshindernis“ bezeichnet und daran erinnert, „das sollte man bei Asyl und Zuwanderung ausdrücklich berücksichtigen“, steht dahinter der Wink mit der Drohung, die Religionszugehörigkeit – gegen das Grundgesetz wie gegen Menschenrechte – zum Kriterium für Asyl bzw. Einwanderung zu machen.

Dass hier geborene Söhne von Einwanderern widerliche Parolen brüllen, ist ein Hinweis darauf, dass die Integration misslungen ist

In der FAZ wird diese Forderung nur kaschiert. Der Inklusionspolemiker Geyer schlüpfte am 26. 7. 2014 in die Rolle des Integrationsgurus und vermutete bei Demonstranten, die mit „blödsinnigen Parolen“ (Wolfgang Benz) durch die Städte ziehen, „neuen Antisemitismus“ und „neue Judenhetze“. Neu ist an solchen Parolen gar nichts. Antisemitismus ist nichts exklusiv Deutsches, aber allemal Kerndeutsches. Dass nun auch hier geborene Söhne von Einwanderern aus islamischen Ländern widerliche Parolen brüllen, ist ein Hinweis darauf, dass die staatsbürgerlich-demokratische Integration/Inklusion, die Geyer eben noch als Gleichmacherei verteufelte, misslungen ist. Er will das durchaus vernünftige und naheliegende Argument, die antisemitischen Pöbeleien seien auch „Ausfluss mangelnder Integration“ und insofern einem hausgemachten Versagen – der Schulbildung mit ihrem ausgrenzenden Beiwerk – zuzuschreiben, nicht gelten lassen und ruft kaum verklausuliert nach Polizei und Ausländerbehörde: „Antisemitismus ist nicht integrierbar“.

Beim Boulevard würden sie das mit „Muslime raus!“ übersetzen.

RUDOLF WALTHER