: Die Schwierigkeiten des Erinnerns
Die Türkei und Frankreich streiten erbittert über die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern. Gibt es eine transnationale Vergangenheitsbewältigung?
Das von der französischen Nationalversammlung im vergangenen Monat verabschiedete Gesetz über die Leugnung des Völkermords an den Armeniern hat einen fortdauernden – und offenbar immer weiter eskalierenden – Streit ausgelöst. Die Türkei hat die militärischen Beziehungen zu Frankreich abgebrochen; weitere, mehr oder weniger symbolische Schritte von beiden Seiten sind zu erwarten. Dies wirft gleich zwei grundsätzliche Fragen auf: Inwieweit darf Meinungsfreiheit im Namen von Erinnerungspolitik eingeschränkt werden – und ist eine Einmischung in die inneren Erinnerungsangelegenheiten anderer Nationalstaaten jemals gerechtfertigt? Im Moment macht man es sich bei der Beantwortung dieser Fragen oft viel zu leicht, indem man selbstgefällig liberal auf Meinungsfreiheit als allein entscheidenden Wert pocht.
Die Kritik am französischen Gesetz war rasch, reflexartig und die politischen Lager übergreifend, von Präsident Chirac bis zu linken Historikern, welche die Freiheit der Forschung bedroht sehen. Vielen Europäern ist noch die Erfahrung mit den bilateralen Sanktionen gegen Österreich vor sechs Jahren unangenehm in Erinnerung. Damals schien die EU endlich den oft bemühten „Anderen“ gefunden zu haben, gegen den die Gemeinschaft ihre Werte definieren konnte: Der „Andere“ erschien in Gestalt Jörg Haiders, und es schmerzte diejenigen, welche die Möglichkeit eines „negativen Gründungsmythos“ für die EU in der Erinnerung an den Holocaust aufscheinen sahen, umso mehr, dass man der Alpenrepublik am Ende einen gesamteuropäischen „Persilschein“ ausstellen und die Sanktionen kleinlaut aufheben musste. Die Idee einer transnationalen Erinnerungspolitik – auch damals mischte Frankreich kräftig mit – schien spektakulär widerlegt worden zu sein.
Bei den Gegnern des jetzt vorliegenden Gesetzes sollte man zwei Argumentationsstränge unterscheiden. Zum einen findet sich – vor allem in England – eine grundsätzliche Ablehnung aller erinnerungspolitisch bedingten Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Diese Position lässt sich als „libertär“ bezeichnen und findet ihr real existierendes Vorbild in den USA. Dort erlaubten Gerichte Neonazis gar, durch einen Vorort Chicagos zu marschieren, in dem viele Holocaust-Überlebende lebten (der berühmt gewordene Fall „Nazis in Skokie“) – und all dies im Namen einer Konzeption von Meinungsfreiheit, die nicht nur libertär, sondern auch egalitär ist: Keine Gemeinschaft ist besonders geschützt, und gebe es auch noch so gute Gründe anzunehmen, dass bewusst bösartige Meinungen sie zutiefst verletzen würden. Es ist auch folgerichtig, dass Vertreter dieses Ansatzes auch eine Abschaffung der Gesetze zur „Auschwitz-Lüge“ fordern.
Die Alternative zum libertären Standpunkt ließe sich als „dignitär“ bezeichnen: Sowohl Individuen als auch historisch konstituierte Gruppen haben ihre Würde, die es zu schützen gilt. Die konkrete Umsetzung dieser Position besteht in einer bewussten „Politik der Anerkennung“ – vor allem der Anerkennung vergangenen Unrechts, und dies nicht zuletzt zur Vermeidung von Rassismus und Diskriminierung in Gegenwart und Zukunft. Ist eine dieser Positionen eindeutig moralisch überlegen oder auch aus verantwortungsethischer Sicht klar vorzuziehen? Mir scheint, dass für beide gute Gründe sprechen, solange eine Position jeweils konsistent vertreten wird. Problematisch sind Zwischenpositionen, bei denen gegenüber manchen Gruppen auf das unantastbare Recht auf Meinungsfreiheit gepocht wird, während gleichzeitig bereits eine ganze Reihe von Gesetzen zu Blasphemie der Mehrheitsreligion oder zur Holocaust-Leugnung bestehen. Dies soll nicht heißen, dass jeder Anspruch auf Anerkennung auch sofort akzeptiert werden muss – bekanntlich wird hier leicht eine Opferkonkurrenz ausgelöst und Menschen, die sich bisher ganz wohl gefühlt haben, werden plötzlich kränkungskompetitiv.
Es soll aber heißen, dass, wenn man sich einmal gegen das konsequent libertäre Modell entschieden hat, Anerkennungsansprüche mit Gründen – moralischer und auch historischer Art – beantwortet werden müssen; man kann nicht selektiv zum lupenreinen Liberalen werden, ohne opportunistisch oder gar heuchlerisch zu erscheinen. Und da fast alle europäischen Staaten sich nun einmal eher in eine dignitäre Richtung orientiert haben, gibt es wohl keine Alternative zu einer permanenten Aushandlung von Anerkennungsansprüchen – ein Umschwenken auf eine konsistent libertäre Linie würde wahrscheinlich viel zu viele politische Verwerfungen nach sich ziehen.
Und eine transnationale Politik der Anerkennung und Beschämung? Hier ist man – zweiter Argumentationsstrang in der derzeitigen Diskussion – schnell mit dem Vorwurf bei der Hand, „Gutmenschen ohne Grenzen“ seien am Werk, in einer unheiligen Allianz mit zynischen Politikern, welche ein paar hunderttausend armenische Stimmen in Frankreich für sich gewinnen und dem Türkeibeitritt Hindernisse in den Weg stellen wollen. Sicher ist an dieser Sicht einiges dran – Erinnerungspolitik ist nie ganz frei von Instrumentalisierungen, kann es auch nicht sein.
Doch nicht alles muss gleich Gesetz werden – es gibt auch offizielle Erklärungen wie im Bundestag zu Armenien. Und Erklärungen von außen können unter Umständen helfen, einen Prozess der kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Gang zu bringen beziehungsweise einer liberalen gegenüber einer nationalistischen Fraktion in einem Lande den Rücken zu stärken. Zudem ist es nicht so, dass nur die vermeintlichen Gutmenschen transnationale Erinnerungspolitik betreiben: Im Oktober war auch Christoph Blocher in der Türkei, um sozusagen unisono mit türkischen Hardlinern die Schweizer Antirassismusgesetze zu kritisieren. Wer wirklich transnationale europäische Politik will, muss auch solche Konflikte wollen, bei denen die Scheidelinien mitten durch die nationalen politischen Kulturen gehen. Und eine nationalistische Gegenreaktion – wie jetzt in der Türkei – ist noch kein Gegenargument, was Beschämen ohne Grenzen angeht.
Die Hoffnung ist nicht grundlos, dass transnationale Erinnerungspolitik einen postnationalen oder besser noch: postnationalistischen Prozess flankieren kann. Dabei geht es eben nicht darum, nationale Eigenheiten für ein Einheitseuropa aufzugeben, sondern kritische Distanz zu den eigenen Vergangenheiten und damit auch gegenüber traditionellem Nationalismus zu gewinnen. Ob das französische Gesetz in seiner jetzigen Form zu diesem Prozess beiträgt, darüber kann man sich mit guten Gründen streiten, und es gibt kein Patentrezept, wie ein postnationalistischer Prozess am Laufen zu halten ist. Dass aber der postnationalistische Prozess Bedingung für den EU-Beitritt ist, ist unbestreitbar. JAN-WERNER MÜLLER