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Archiv-Artikel

„Das Unbegreifliche dokumentieren“

Demütigende Szenen, die kein Foto je zeigen wird: Mehr als 200 Zeichnungen des Lageralltags, die vor allem dänische, norwegische und französische Häftlinge im KZ Neuengamme bei Hamburg schufen, hat Maike Bruhns für einen gerade erschienenen Band zusammengetragen

Interview Petra Schellen

taz: Frau Bruhns, wie kompliziert war die Recherche für Ihr Buch: Lagern die Originale der im Katalog abgebildeten Zeichnungen sämtlich in einem Neuengammer Depot?

Maike Bruhns: Nein. Es gibt kaum noch Originalzeichnungen. Und die vorhandenen werden in den Freiheits- oder Widerstandsmuseen der Herkunftsländer der Zeichner aufbewahrt – in Kopenhagen, Paris oder Oslo. Für das Buch habe ich alles zusammengesucht, was an Zeichnungen produziert worden ist – im Lager oder direkt nach der Befreiung. Teils waren die Zeichnungen in Büchern abgebildet, teils habe ich Reproduktionen der Originale anfertigen lassen.

Gibt es in Neuengamme noch Originale?

Ein einziges. Ein Aquarell von Annemarie Ladewig, die am 23.4. 1945 gehängt wurde.

Warum haben die Häftlinge gezeichnet: Um ihre Erlebnisse zu verarbeiten oder um sie zu dokumentieren?

Sie wollen vor allem das Unbegreifliche dokumentieren, das sie erlebten. Sie haben in sehr unterschiedlicher Qualität Alltagsszenen gezeichnet, die vom Porträt über Misshandlungs-Szenen bis zum unverfänglichen Blick von oben auf die Baracken reichten.

Hingen die thematischen Schwerpunkte der Zeichner auch von ihrer Nationalität und deren Haftbedingungen ab?

Nein. Die Fokussierung haben die Gefangenen individuell vorgenommen. Die Menge der erhaltenen Zeichnungen hängt dagegen eng mit der Nationalität des Zeichners zusammen. Die Skandinavier, die erst Mitte März 1945 in das so genannte Skandinavier-Lager kamen, das vom restlichen KZ abgetrennt war, hatten zum Beispiel zunächst vier bis fünf Wochen „Schonfrist“. Während dieser Zeit haben sie viel gezeichnet.

Der Transport von Häftlingen aus dem grenznahen dänischen Lager Frøslev nach Deutschland entsprach ja nicht den Vereinbarungen zwischen Dänemark und Deutschland.

Nein. Aber die deutschen Besatzer haben sich nicht daran gehalten und die Skandinavier trotzdem als normale Häftlinge nach Neuengamme gebracht. Erst im April 1945 trafen das schwedische Rote Kreuz und Himmler ein Abkommen zur Evakuierung sämtlicher skandinavischer KZ-Häftlinge nach Schweden. Sammelpunkt für die Transporte dieser „weißen Busse“ war Neuengamme.

Die drittgrößte Gruppe der Zeichner in Ihrem Katalog stammt aus Frankreich. Warum hatten sie Kraft zum Zeichnen?

Die Franzosen waren in zwei Gruppen eingeteilt. Da waren einerseits die Geiseln, die in einer „Prominentenbaracke“ interniert waren und nicht arbeiten mussten. Das waren Bürgermeister und Akademiker, die in Nordfrankreich nach Attentaten als Geiseln genommen worden waren. Sie litten zwar auch Hunger, wurden aber nicht misshandelt und mussten nicht arbeiten. Auf der anderen Seite gab es die französischen Widerstandskämpfer, die wie die „normalen“ Häftlinge geschunden wurden.

Die sagten, die Blätter seien von sehr unterschiedlicher Qualität. Sind überhaupt „Kunstwerke“ im engeren Sinne darunter?

Ja. Drei der Zeichner sind ausgebildete Künstler – etwa die Dänen Viktor Glysing Jensen und Per Ulrich. Ulrich ist ein wirklich künstlerischer Zeichner, der vor allem die Verelendung der Häftlinge abbildete. Er hat sich auch ins Krematorium hineingeschmuggelt, das die Häftlinge nicht betreten durften.

Er ging da explizit hinein, um es zu zeichnen?

Um es zu sehen. Und dann zu zeichnen.

War er der Einzige, der dieses Risiko einging?

Ja. Es haben zwar auch andere die Krematorien gezeichnet, aber sie hatten sie nicht von innen gesehen. Das erkennt man daran, dass ihre Zeichnungen topographisch nicht stimmig sind.

Weitere Beispiele heimlichen Zeichnens? Oder waren alle Zeichnungen des Lager-Alltags illegal?

Nein, es gab Unterschiede. Der Franzose Lazare Bertrand, eine der privilegierten französischen „Geiseln“, zeichnete alles, was er sah. 50 Prozent davon konnte er bei Kontrollen vorzeigen. Den Bau der Steinhäuser in Neuengamme oder ein arbeitendes Häftlingsgewimmel durfte man ja zeichnen. Er hat aber auch „heimliche“ Zeichnungen gemacht, die unverfänglich wirkten, weil er sie zunächst nicht beschriftete. Da ist zum Beispiel ein Blatt, auf dem Häftlinge einen mit Tonnen und Säcken beladenen Wagen schieben. Nach der Befreiung hat er dazu geschrieben: „Wie oft haben wir diesen Wagen gesehen, hoch beladen mit den Leichen unserer Kameraden.“ Auf einer anderen Zeichnung stehen 41 Häftlinge vor einer Baracke, als warteten sie aufs Essen. In Wirklichkeit standen sie da, um gehängt zu werden. Auch das hat der Künstler erst nach 1945 dazugeschrieben.

Sie sprachen eben von Kontrollen. Haben die KZ-Aufseher systematisch nach Zeichnungen gesucht?

Ja. Sie waren geradezu darauf aus, bei den Häftlingen etwas Unerlaubtes zu finden, um sie misshandeln oder in Arrest schicken zu können.

Einige Häftlinge haben ja auch Auftragswerke für die KZ-Aufseher geschaffen und zum Beispiel SS-Angehörige porträtiert. Zogen sie sich damit nicht den Hass ihrer Mithäftlinge zu?

Nein. Es ging dort ums reine Überleben. Und wer die SS zeichnete, bekam Brotreste und Essensabfälle, von denen er im besten Fall noch abgeben konnte.

Allgemein gesprochen: Was macht die Zeichnungen im Vergleich zu den Fotos, die nach der Befreiung von den Lagern gemacht wurden, zu etwas Besonderem?

Die Zeichnungen zeigen Details, die sonst – abgesehen von schriftlichen Berichten der Häftlinge – nirgends festgehalten sind. Vor allem den zwischenmenschlichen Umgang im Lager haben die Zeichner in den Blick genommen: die Lagerhierarchie und das Unterworfensein unter Menschen, denen man normalerweise nie begegnet wäre und die einen zu Tode quälen und treten konnten.

Sind die Zeichnungen aus Neuengamme im Vergleich zu denen aus anderen KZ repräsentativ?

Abgesehen davon, dass einige Zeichner in den andern Lagern ihre Leiden im christlichen Sinne als Passion dargestellt haben, ähneln sich die Blätter thematisch. Es sind immer Quälszenen zu sehen, Schlägereien ums Essen, die Verelendung der Kranken und der Umgang mit Sterbenden und Toten. Außerdem die erwähnten Krematoriumsszenen.

Der Band „Die Zeichnung überlebt – Bildzeugnisse von Häftlingen des KZ Neuengamme“ (ISBN 978-3-86108-543-0) enthält 286 Zeichnungen von 19 Häftlingen aus Dänemark, Norwegen, Frankreich, den Niederlanden, der Sowjetunion, Ungarn und Deutschland. Das 375 Seiten starke Kompendium stellt das erste vollständige Verzeichnis der im KZ Neuengamme entstandenen Zeichnungen dar.