VIELE GLEICHGESINNTE ZIEHEN NACH, ES IST DER KIEZ TO BE : Das Gefühl, in der provinziellsten Großstadt der Welt zu leben
VON DORIS AKRAP
Es ist nicht leicht, Bewohner irgendeines ehemaligen, gerade angesagten oder zukünftigen In-Kiezes zu sein. Erst kommt man hierher, weil es so billige Wohnungen gibt, weil der Unterhaltungswert der betrunkenen Hartz-IV-Empfänger vor dem Supermarkt einmalig ist, weil die Infrastruktur total ostig ist, obwohl der Kiez im Westen liegt, weil es neben dem Bäcker, der nur triefendes Fettgebäck verkauft, auch noch Beumer& Lutum gibt, weil bettelnde Punks neben türkischen Omas und deutschen Hausmeistern vor der Eisdiele stehen, weil es an Spree und Landwehrkanal so schön nach fauliger Fischbulette riecht und weil das Heruntergekommene eben dazugehört, denn nur so lässt sich im ausgebauten Dachgeschoss eines ehemals besetzten Hauses der Blick über den Görlitzer Park so richtig erhaben genießen. Außerdem machen ein paar neue Eventlokale und schwäbische Edelrestaurants auf, auch Holztischkneipen für Alternative, in denen Plakate gegen Gentrifizierung hängen, ein Sneakershop ist auch gekommen, und Kitas gibt’s sowieso, so weit das Auge reicht.
Man fühlt sich von der Geschichte bestätigt, denn viele Gleichgesinnte ziehen nach, es ist der Kiez to be. Und dann, ganz plötzlich wachen diese Anwohner auf und fühlen sich wie in einer Erzählung des türkischen Autors Aziz Nesin: In „Die Menschen erwachen“ zieht ein aus dem Knast entlassener politischer Häftling in ein Provinzdorf, das aus 10 Hütten und einem improvisierten Lebensmittel- und Gemüseladen besteht. Doch innerhalb kürzester Zeit eröffnen Kaffeebars; ein Schuster, ein Bäcker, ein Saftverkäufer, Polizisten und viele andere kommen in das Dorf und sind alle äußerst freundlich und zuvorkommend zu dem ehemaligen Häftling, der doch eigentlich bloß mit sich allein sein wollte. Am Ende der Geschichte stellt sich heraus, dass er tatsächlich ganz allein ist, denn alle anderen Zugezogenen sind vom Geheimdienst.
Tatsächlich fühlen sich auch die Anwohner in meinem Kiez bedroht. Sie sind der Meinung, dass sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, allerdings nicht von fiesen Geheimdienstlern, sondern von Fans. Ein grüner Zettel klebte in den vergangenen Wochen an den Haustüren des Wrangelkiezes: „Hilfe, die Touris kommen!“ stand da. Der Zettel rief zu einer Versammlung auf, die sich darauf verständigen will, eine Begrenzung für Hostels in „unserem“ Kiez einzuführen und weitere Maßnahmen einzuleiten, die die Touristen verscheuchen sollen. Die meisten der Leute, die an solchen Treffen teilnehmen, haben bei ihrem ersten Besuch in Kreuzberg in einem Hostel, das damals vielleicht noch Jugendherberge oder Pension hieß, übernachtet. Und schon wieder, ich kann derzeit nicht anders, habe ich das Gefühl, in der provinziellsten Großstadt dieser Welt zu leben. Erst wird ein Minister gestürzt, weil Abschreiben hierzulande für ein Gaddafi’sches Verbrechen gehalten wird, und dann fühlt sich der Kiez bedroht, weil alle drei Monate mal ein Tourist nachts den Bürgersteig vollkotzt, während die Aktivisten in Kairo „Fly Egypt“ fordern. Wie wäre es denn, ihr genervten Anwohner der In-Kieze, wenn ihr einfach jedem Kieztouristen, den ihr loswerden wollt, ein Sofortticket nach Scharm al-Scheich oder Djerba kauft? Dann seid ihr sie los und tut auch noch was für einen guten Zweck. Das braucht ihr doch auch von Zeit zu Zeit. Die Berliner Partytouristen könnte ihr auch noch mit dem neuen Slogan des tunesischen Tourismusministeriums überzeugen: Mit „I love Tunisia – the place to be … now!“ warb das Land diese Woche auf der ITB in Berlin.