: Die Frau, die sich eine Heimat backt
KOCHKUNST Luisa Weiss pendelte in ihrer Kindheit zwischen Berlin und Boston. Heute lebt sie mit Mann und Kind in Charlottenburg. Dass sie hier zu Hause ist, merkt die Kochbuchautorin am Geruch der Brötchen vom Biobäcker um die Ecke. Ein kulinarischer Spaziergang
LUISA WEISS
VON NINA APIN
Aus dem „Brotgarten“ in der Charlottenburger Seelingstraße riecht es nach Mehl, Hefe und herben Gewürzen. „Das ist der Duft meiner Kindheit“, sagt Luisa Weiss und bleibt schnuppernd auf dem Gehweg stehen. „So riecht es nur in einer Westberliner Biobäckerei“, ist die 36-Jährige überzeugt. Immer, wenn sie dort Brötchen hole, fühle sie sich zurückversetzt nach Wilmersdorf, Anfang der 80er Jahre. Dort, im dritten Stock eines Altbaus, wohnte Weiss mit ihren Eltern, zumindest die ersten drei Jahre ihres Lebens. Ihre frühesten Eindrücke stammen aus dieser Zeit, sagt sie. „Ich kann mich an so vieles genau erinnern – es ist fast ein bisschen gespenstisch.“
Die baumbestandenen Straßen, die gemütliche Wohnung ihres New Yorker Kindermädchens, wo es Omelette mit Konfitüre gab. Die Trennung der Eltern, als sie drei war. Der Umzug mit ihrem Vater, einem US-amerikanischen Mathematiker, der sie mit nach Boston nahm, von wo aus sie in den Sommerferien zu ihrer Mutter, einer italienischen Übersetzerin, nach Westberlin reiste. All das kann Luisa Weiss durch den Duft eines Brötchens heraufbeschwören. Die Magie eines Trennungskinds, das versucht, Distanz und Schmerz durch vertraute Nahrungsmittel schrumpfen zu lassen.
Rezepte gegen Fernweh
„Entfernungen haben keine Bedeutung, wenn es in deiner Küche wie zu Hause riecht“, schreibt sie. Aus dieser Erkenntnis entwickelt die kleine Luisa ein Faible fürs Kochen. Vermisst sie in Boston die Mutter, reibt sie Bitterschokolade in ihren Frühstücksjoghurt. Denkt sie an den Vater, kocht sie Tomatensoße mit Zwiebeln und Karotten. Und durch das Dünsten eines Huhns mit Paprika und Zwiebeln fühlt sie sich ihrer italienischen Oma nahe. Kochrezepte ziehen sich auch als roter Faden durch Luisa Weiss’ autobiografischen Roman „My Berlin Kitchen“, der vergangenen Winter auf Deutsch erschienen ist. Und auf Holländisch. Übersetzungen in weitere Sprachen sollen folgen.
„Ich hatte viel Glück mit dem Buch“, sagt Luisa Weiss, als sie einmal quer durch ihren Kiez zwischen Schloss Charlottenburg und Klausenerplatz führt. Glück mit einem Buch, das beschreibt, wie dem schüchternen Scheidungskind das Glück einer großen Liebe zuteilwurde. „My Berlin Kitchen“ endet mit einer italienischen Landhochzeit, Luisa und Max samt Patchworkfamilien vereint bei Champagner und in großen Kesseln frittierten Meeresfrüchten.
Fühlt sich Luisa Weiss jetzt – da sie als verheiratete Kochbuchautorin zurück ist in Berlin – angekommen? „Und wie!“ Sie grinst. Eine richtige „Kiezkartoffel“ sei sie geworden, seit vor zwei Jahren ihr Sohn Hugo auf die Welt kam, sagt sie und dreht sich vor der Sammlung Scharf-Gerstenberg einmal im Kreis: Den Berg hinauf, im Westend-Krankenhaus, hat sie ihr Kind zur Welt gebracht. Rechts über die Straße liegt das Schloss Charlottenburg, in dessen Park die junge Familie regelmäßig Enten füttern geht.
Hinterm Museum wohnen sie in einer, wie Weiss sagt, „vor fünf Jahren noch teuren, inzwischen aber günstigen Wohnung“. Und drüben, Richtung Wilmersdorfer Straße, gebe es alles, was man sonst noch zum Leben brauche: Kindergarten, Läden, Reinigung. „Mein Radius ist richtig klein geworden“, seufzt die Autorin. Und sieht dabei sehr zufrieden aus.
Den Großteil ihres Lebens war Luisa Weiss unterwegs. Westberlin mit beiden Eltern. Dann Boston mit dem Vater. Mit 14 zog sie zurück zur Mutter, besuchte in Zehlendorf die deutsch-amerikanische Kennedy-Schule. Aufs College ging sie in Boston. Einen Teil der Ferien verbrachte sie stets beim jeweils anderen Elternteil. Oder besuchte mit ihrer Tagesmutter deren Schwiegervater im brandenburgischen Brieselang, damals noch DDR. Mit Schokolade und Bananen im Gepäck hin. Zurück höchstens mit ein paar sauren hellroten Kirschen aus dem Garten, argwöhnisch untersucht von den Grenzpolizisten.
Diese frühen Erfahrungen und ihre Zehlendorfer Schulzeit machen Luisa Weiss, die seit fünf Jahren wieder in der Stadt lebt, zu einer besonderen Berlin-Bewohnerin: „Ich habe zwei Blicke auf die Stadt“, sagt sie. „Einen inneren und einen äußeren.“ Von außen betrachtet sie, wenn sie über die Wohnungssuche in Berlin spricht, die „erfrischend ehrlichen“ Makler, die im Vergleich zu New York und Paris großzügigen und erschwinglichen Wohnungen. Oder über das Essensangebot in Berlin, wo man – sie sagt es ohne Herablassung – im Vergleich zu anderen Metropolen einfach noch ein paar Jahre hinterher sei. Es sei keine Selbstverständlichkeit, authentisch birmanisch essen gehen zu können. Oder auch einfach ein ordentliches Brot zu bekommen. Überhaupt das Brot: Als sie sich über den Niedergang des deutschen Bäckerhandwerks erregt, klingt sie recht deutsch. Wie könne man sich nur minderwertige Discounter-Brötchen in den Mund stopfen, in einem Land mit derart reicher Brotbacktradition?! Die Ausbreitung der Billigbackshops empfindet sie gar als „nationale Schande“.
Weiss holt erst wieder Luft, als sie vor dem Schaufenster der Bäckerei Hutzelmann in der Wilmersdorfer Straße steht. Ein Betrieb nach ihrem Geschmack: schlesische Rezepte, weitergereicht seit Generationen. Vor Ostern hat sich Weiss dort in die Backstube gestellt und staunend zugeschaut, wie Mohnrollen, Quark-Piroggen und andere Köstlichkeiten von Hand produziert wurden. Solche Erfahrungen beschreibt sie in ihrem Essens-Blog „Berlin on a Platter“. Andere, negative Erlebnisse mit schlechtem Essen oder unfreundlichem Service blendet sie aus: Meckern liege nicht in ihrem Naturell. „Ich weiß ja auch nicht alles besser“, sagt sie. „Ich habe nur einfach etwas übrig für gutes Essen und gute Lebensmittel.“
Beim türkischen Gemüsehändler um die Ecke kommt Weiss noch einmal auf die in ihrem Buch beschriebene Gemüsekrise zu sprechen: Es ist ihr erstes Jahr in Berlin, gerade hat sie ihr New Yorker Leben, die Freundinnen und den guten Verlagsjob verlassen, um bei ihrem Freund Max zu leben. Den langen, grauen Winter hat sie durch das Backen von Weihnachtsplätzchen bekämpft, den ersten Beziehungskrach mithilfe eines Kartoffelsalats (mit Brühe!) beigelegt. Doch dann will sie dunkelgrünes Blattgemüse kaufen. Und findet keins. Pak Choi, Cime di Rapa, Endivie, Sareptasenf? Gibt es in New York an jeder Ecke. Und in Berlin, diesem blöden Kaff, muss man ewig suchen!
Im Rückblick muss sie über ihren Frustanfall lachen. „Ich war noch nicht richtig angekommen und hatte eine Schreibkrise.“ Die Lösung? Ein regelmäßiger Tagesablauf. Und viel Zucchini.
Beim traditionsreichen Fischhändler Rogacki zeigt Weiss begeistert die frisch geräucherten Sprotten, den Thunfisch. Sie weiß, dass es dienstags immer frische Ware gibt, welcher Kartoffelsalat am Stehausschank am besten ist. Und welche Fleischsorten man in der kleinen angeschlossenen Metzgerei kauft – oder doch lieber woanders. Sie kennt sich aus. „Knowing my way around“ sei ihr immer wichtig gewesen. In Paris, wohin sie nach dem College zog, wusste sie bald, wo man den knackigsten Chicorée bekam; in New York, wo sie als Literaturagentin und Kochbuchlektorin arbeitete, war sie auf der Jagd nach den besten Sandwiches und probierte täglich neue Rezepte aus, um sie in ihrem Food-Blog „The Wednesday Chef“ anderen Kochbegeisterten zugänglich zu machen.
Eine Karriere aufgebaut
Den Blog betreibt sie weiter, und über das Kochen und Essen hat Luisa Weiss sich eine Heimat geschaffen – und eine Karriere aufgebaut. „Wenn man wie ich eine multinationale Herkunft hat, mit einem amerikanischen Pass, italienischer Staatsbürgerschaft und einer in Westberlin ausgestellten Geburtsurkunde, dann braucht man vermutlich ein bisschen länger als andere Leute, um sich über seinen Platz in dieser Welt klar zu werden“, schreibt sie in ihrem Buch.
In Berlin weiß sie inzwischen, wo es Chipotles in Adobosoße zu kaufen gibt. Und wie man die komplizierte Stachelbeer-Sahne-Torte „Hannchen Jansen“ zubereitet. Der deutschen Backkultur will sich Weiss nun mit einem neuen Backbuch nähern. Momentan kreiert sie jeden Tag, während ihr Sohn im Kindergarten ist, eine neue Torte. Sie wisse langsam gar nicht mehr, wohin mit dem süßen Zeug, klagt sie. Zumal bei der Hitze.
Um Perfektion zu erreichen, sucht sie nach einer „Backpatin“. Ihre gute Bekannte, die US- Kaffeehausgründerin Cynthia Barcomi, könne da nur bedingt weiterhelfen – die habe es eher mit Brownies und Cupcakes. Luisa Weiss aber sucht nach Sahnekielchen, Eierschecke und Kirschmichel. Sie bäckt sich damit jeden Tag ein bisschen mehr ihrem Lebensgefühl als alte, neue Westberlinerin entgegen.
■ Luisa Weiss: „My Berlin Kitchen. Eine Liebesgeschichte“, Limes Verlag 2013, 448 Seiten, 14,99 Euro