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Archiv-Artikel

Restlaufzeit Atomregierung

BUNDESREGIERUNG So schnell kann es gehen: Im Laufe von drei Tagen knickt die schwarz-gelbe Regierungskoalition beim Atomkurs ein – zumindest ein bisschen

Für Merkel, Westerwelle und Röttgen geht es nicht mehr nur um die Sache, sondern auch um Wahlen

VON H. GERSMANN, M. LOHRE, G. REPINSKI UND P. WRUSCH

Nichts ist mehr sicher. Auch die Pro-Atom-Position der Regierung nicht. Am Montagnachmittag erklärte Kanzlerin Angela Merkel, die von Schwarz-Gelb im Herbst beschlossene Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke werde „für drei Monate“ ausgesetzt. Derweil werde die Sicherheit aller Meiler geprüft. Dabei gebe es „keine Tabus“. So sei auch ein sofortiges Abschalten von alten Reaktoren möglich – „das wäre die Konsequenz, sonst wäre es ja kein Moratorium“.

Vor wenigen Tagen war noch undenkbar, dass sich schwarz-gelbe Koalitionäre skeptisch äußern zur Sicherheit deutscher Atomkraftwerke. Theoretisch müsste mit dem Moratorium zum Beispiel Neckarwestheim vom Netz, es läuft schon seit Januar nur noch wegen des schwarz-gelben Laufzeitplus.

Am Tag drei nach der verheerenden Katastrophe in Japan ist der Druck für die Atombefürworter zu groß geworden. CDU-Bundesumweltminister Norbert Röttgen hatte als Erster „Ja“ gesagt – ja, die Frage nach der Beherrschbarkeit der Kernenergie müsse neu gestellt werden. Das war bereits Samstagnachmittag. Fast zeitgleich hatte Angela Merkel auf einer Wahlkampfveranstaltung lediglich von „Demut“ gesprochen, die das Ereignis einfordere. Eilig hatte sie da für den Abend einen Krisengipfel ins Kanzleramt berufen. Danach sagte sie, die 17 deutschen Atomkraftwerke seien „nach Maßgabe dessen, was wir wissen, sicher“, versprach aber zugleich schon den Sicherheitscheck. Sie will der Opposition keine Angriffsfläche bieten, aber auch nicht abweichen vom Pro-Atom-Kurs.

Am Montag reicht das aber nicht mehr. Wieder ist es nicht die Kanzlerin, über die die Qualitätsveränderung bei der Regierung zuerst verlautet wird. Es ist der Vizekanzler. Es sei vorstellbar, die Laufzeitverlängerung auszusetzen, zitierten Nachrichtenagenturen Westerwelle am Montagmorgen.

Am Mittag gibt der sich dann vor Journalisten vorsichtiger: Eine „unabhängige Expertenkommission“ solle eine „neue Risikoanalyse aller deutschen Kernkraftwerke“ vornehmen. Bis wann diese Ergebnisse liefern solle, kann er „derzeit nicht beantworten“.

Kein Wort von ihm, dass die Regierung die Laufzeiten aussetzen will. Stattdessen versuchte der FDP-Vorsitzende die Debatte wieder einzufangen: „Die Sicherheitsdebatte und die Laufzeitdebatte muss man doch trennen.“ Zu spät.

Im Regierungslager geht es hin und her. Die Energiedebatte ist zurück, dabei schien sie schon vergessen, die schwarz-gelbe Koalition hatte sich einmal über alle Atomkritiker hinweggesetzt. Atomkraft sei die „Brückentechnologie“ ins Zeitalter der Ökoenergien, so hat die Union das noch im Bundestagswahlkampf 2009 propagiert. So hat sie es im Koalitionsvertrag mit der FDP festgelegt. So hat die Regierung es dann umgesetzt: Laufzeitverlängerung im Schnitt um 12 Jahre.

Der schwarz-gelbe Atomdeal 2010 kam nicht gut an. Zu klar war, dass er vor allem vier Atomkonzernen nutzt und mit einem Umbau hin etwa zu Windkraft wenig zu tun hat. Im Gegenteil: Der Atomstrom verstopft Leitungen. Aber: Der Ausstieg aus dem Ausstieg war festgezurrt.

Das könnte sich als taktischer Fehler erweisen. In Deutschland kommt Atomkraft nicht an. Lange argumentierten Befürworter, die Katastrophe in Tschernobyl hätte an russischer Schrotttechnik gelegen. Das geht seit den Problemen im hochtechnologisierten Japan nicht mehr. Und für Merkel, Westerwelle und Röttgen geht es in diesen Tagen nicht mehr nur um die Sache, sondern auch um Wahlen.

In Sachsen-Anhalt wird Sonntag abgestimmt, in Baden-Württemberg eine Woche drauf. Und auch in Nordrhein-Westfalen, Röttgens Heimat, wird wohl gewählt. Röttgen galt in den Verhandlungen letztes Jahr in der Union als Störfaktor. Immerfort erklärt er, für ihn dürfe die Atombrücke ins Ökoenergiezeitalter kürzer ausfallen. Doch er wurde abgeblockt, von der Physikerin Angela Merkel, von den Unions-Ministerpräsidenten im Süden. Die meisten Atomkraftwerke stehen in Baden-Württemberg, Hessen und Bayern. Die Union hätte sich ein moderneres Image geben können, jetzt muss sie um Wählerstimmen bangen.

Die Opposition hat sich längst eingestellt. Grüne und SPD fordern die sofortige Abschaltung der ältesten Atommeiler. Am Donnerstag bringen beide Fraktionen jeweils Anträge zur namentlichen Abstimmung in den Bundestag ein. SPD-Fraktionsvize Ulrich Kelber sagte am Montag zur taz: „Wir müssen die vier ältesten sofort abschalten, also Biblis A und B, Brunsbüttel und Neckarwestheim“ – und vier weitere im nächsten halben Jahr.

Wie wahrscheinlich ist, dass Merkels Truppe tatsächlich einen neuen Atomkurs einschlägt? Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin meint, Merkel wolle „ihre katastrophale Fehlentscheidung vom Herbst letzten Jahres aussitzen“. Er glaubt nicht an den schwarz-gelben Einstieg in den Ausstieg. Die Aktien deutscher Energiekonzerne fielen.