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Archiv-Artikel

Sind Juden in Deutschland noch sicher?Ja

GEFAHR Auf Demonstrationen werden Juden beschimpft, in Wuppertal wurde eine Synagoge angegriffen. Manche überlegen, das Land zu verlassen

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Yakov Hadas-Handelsman, 56, ist Botschafter des Staates Israel in Deutschland

Als Vertreter Israels, der Heimstätte des jüdischen Volkes, kann ich gegenüber dem Antisemitismus in der Welt und besonders in Deutschland nicht gleichgültig sein. Die entscheidende Frage ist, ob die deutsche Mehrheitsgesellschaft bereit ist, ihre seit dem Zweiten Weltkrieg und der Schoah errungenen demokratischen Werte wie Freiheit und Toleranz aktiv zu schützen. In den letzten beiden Jahren hatte ich bei zwei Gelegenheiten den Eindruck, dass dieses hohe Gut angegriffen wird: bei der Debatte über die Beschneidung und zuletzt angesichts der antisemitischen Vorfälle bei antiisraelischen Protesten. Hier ist ständige Wachsamkeit gefragt, damit demokratische Werte nicht missbraucht werden. Ob Juden in Deutschland sicher sind und sich sicher fühlen – das hängt davon ab, ob diese Werte gehütet werden; alltäglich im Familien- und Freundeskreis, in der Wahlkabine, auf der Straße. Ich bin mir sicher, dass die deutsche Gesellschaft in der Lage ist, mit dieser Herausforderung erfolgreich umzugehen.

Tamar Amar-Dahl, 46, ist Autorin, Historikerin und Professorin an der FU Berlin

Juden in Deutschland sind bestimmt sicherer als Juden in Israel, wenn man bedenkt, wie oft Letztere dem Nahostkonflikt ausgesetzt waren und noch immer sind. Die rege Emigration junger Israelis gen Berlin belegt dies. Nicht nur ökonomische Gründe sind im Spiel, Israels aussichtslose Palästinapolitik hilft vielen bei der aus zionistischer Sicht sehr wohl schwierigen Entscheidung, ihre Heimat zu verlassen. Für die deutschen Juden führt das in ein Dilemma: Ihre Existenz im „Land der Täter“ ist an einen starken jüdischen Staat gekoppelt – eine Art sicheren Hafen für schlechte Tage. Doch Israels Sicherheitspolitik erweist sich zunehmend als kontraproduktiv: Nicht nur garantiert sie wohl kaum einen solchen sicheren Hafen, sie droht auch den in Europa so sehr befürchteten alten Antisemitismus in einer neuen Form wieder zu entfachten.

Omri Boehm, 35, pendelt als Professor der Philosophie zwischen New York und München

Das Wort „noch“ in der Frage ist irreführend, weil es vorgibt, dass eine neue Art der Bedrohung aufgekommen wäre. Diese Annahme ist unbegründet. Judenhass droht nicht legal oder modisch in der deutschen Gesellschaft zu werden. Einige Demonstranten, die gegen Israels abscheuliche Handlungen in Gaza protestieren, haben unannehmbare Parolen gerufen; einige Kriminelle sind Menschen gegenüber gewalttätig geworden, nur weil sie Juden waren. Das ist beunruhigend, aber es ändert nichts an dem Fakt, dass Rassismus und Kriminalität – schlimmer: eine Kombination aus beidem – in jeder Gesellschaft existieren. Besonders deshalb, weil die jüdische Geschichte in Deutschland politisch relevant bleiben sollte, müssen wir die Illusion bekämpfen, dass die Kritik an Israel im Antisemitismus begründet liegt. Wir dürfen nicht zulassen, dass Ausprägungen der rassistischen Kriminalität die öffentliche Aufmerksamkeit von dringenden politischen Problemen ablenken, die das jüdische Leben verfolgen: Israels Besetzung Palästinas und die Belagerung und Zerstörung des Gazastreifens.

Nein

Michal, 22, Studentin, wurde in Berlin geboren und ist in Israel aufgewachsen

Vor zwei Wochen wurde ich auf der Straße angespuckt, weil ich eine Kette mit einem Davidstern-Anhänger getragen hatte. Klar, es gibt noch mutige Menschen, die in heiklen Situationen eingreifen. Trotzdem fühle ich mich oft nicht sicher. In Neukölln oder Moabit ist es ganz schlimm. Überall sieht man Graffiti mit Hetztiraden gegen Juden. Vor ein paar Jahren wurde ich von einem Mann angemacht. Aber als ich ihn abgewiesen habe, ist er aggressiv geworden, hat mich als „Scheißjude“ beschimpft und mit einem Messer attackiert. Davon habe ich eine kleine Narbe an der Wange zurückbehalten. Die Polizisten haben die Sache nicht im Griff. Ich glaube, sie haben selbst Angst vor den vielen Radikalen auf den Demos. Lange will ich in Deutschland jedenfalls nicht mehr bleiben. In Israel fühle ich mich sicherer.

Charlotte Knobloch, 81, war Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland

Angesichts des extremen Judenhasses, der sich auch hierzulande offenbart, können sich jüdische Menschen nicht mehr sicher fühlen. Der entfesselte Mob skandiert widerlichste antisemitische Parolen. Offen wird zu Gewalt gegen Juden aufgehetzt. Synagogen werden attackiert, Grab- und Gedenkstätten geschändet, der Holocaust wird glorifiziert. Fanatische Ideologen zelebrieren menschenverachtenden Hass – und schrecken vor nichts zurück. Für Juden die bedrohlichste Zeit seit 1945. Wo verbale Gewalt keine Grenzen mehr kennt, sind körperliche Angriffe die zynisch-logische Folge. An der Seite der gewaltorientierten Islamisten haben auch militante Rechts- und Linksextremisten einen Radikalisierungsschub vollzogen. Dazu kommt die Gefahr durch in Terrorcamps trainierte Dschihadisten, die wie in Toulouse oder Brüssel jederzeit antijüdische Vernichtungsfantasien realisieren können.

Mark Lückhof, 33, ist taz-Leser und hat sich per Mail an unserer Streitfrage beteiligt

Eine Gesellschaft, die sich diese Frage stellen muss, hat bereits das Problem, dass sich hier lebende jüdische Menschen unsicher fühlen. Antisemitismus ist keine Erscheinung der jüngsten Vergangenheit, sondern vielmehr ein Wahrnehmungsmuster unserer Gesellschaft. Die relative „Harmlosigkeit“ dieses Alltagsantisemitismus hat zwei Gründe: die deutsche Geschichte und eine recht stabile Wirtschaft. Beide Faktoren lassen den latent antisemitischen Otto-Normal-Bürger auf dem Sofa mit der Faust in der Tasche lethargisch zurück. Dies stellt, so makaber das klingen mag, eine Form der Sicherheit für Jüdinnen und Juden in Deutschland dar. Eine nichtlatente Form des Antisemitismus ist der islamische: Juden sind nicht sicher, wenn Synagogen angegriffen werden, der Staat Israel mit allen Juden gleichgesetzt und Israel als der Hort des Bösen schlechthin angesehen wird. In einer Zeit, in der bereits das Wort „Israel“ vielen Bürgern die Zornesröte ins Gesicht steigen lässt, sind Juden hier natürlich nicht sicher. Besonders, wenn man weder eine breite Solidarisierung der Zivilgesellschaft noch eine angemessene strafrechtliche Verfolgung antisemitischer Straftaten wahrnehmen kann.