Nahtstelle Nikosia

Offene Ateliers in einer geteilten Stadt. Wie Künstler aus dem griechischen Süden und dem türkischen Norden Zyperns die grüne Grenze durchlässiger machen wollen

AUS NIKOSIA SUSANNE LANG

Endlich, der mechanische Metallstempel saust nach unten. Klack! Er hinterlässt auf dem kleinen, weißen Stück Papier in Nicholas Panayis Hand ein ovales Zeichen in blauer Farbe. Nun darf der griechische Zypriote den türkisch-zypriotischen Teil der Stadt wieder verlassen. Panayi lächelt freundlich, nickt und nimmt sein Visum aus der Durchreiche unter der Glasfront entgegen. Die Beamtin in ihrer dunkelblauen Uniform hinter der Scheibe blickt streng zurück und nimmt den Pass des nächsten Grenzgängers am Posten der geteilten Hauptstadt Nikosia entgegen.

Der Wind pfeift kalt um die kleinen Containerhäuschen, in denen die Beamten der Türkischen Republik Nordzypern auch an diesem Herbsttag sitzen. Kein anderer Staat der Welt erkennt die Arbeit dieser Beamten offiziell an – außer der Türkei. Gerade deshalb nehmen sie sich Zeit, studieren die Pässe, scannen die Nummern in Computer, tasten die zugehörigen Gesichter mit ihren Blicken ab. Die Subventionen der Türkei fließen auch in die Gehälter der Grenzbeamten in ihren Containern. Die Performance am Grenzübergang tröstet die türkischen Zyprioten ein wenig darüber hinweg. Ein Stempel blau auf weiß bedeutet etwas: ein kleines Symbol, eine bleibende Spur der Existenz. Immerhin.

Am Himmel über Nikosia hängen graue Wolken, es ist kalt für die wärmeverwöhnte Mittelmeerinsel. Seit mehr als 50 Jahren kämpfen die türkischstämmige Minderheit und die griechischstämmige Mehrheit auf Zypern um ihr Territorium, um gegenseitige Anerkennung. Seit drei Jahren, noch vor dem EU-Beitritt der griechischen Republik im Süden, sind wenigstens die Grenzübergänge in das jeweils andere Gebiet geöffnet. Aus einer mit Waffen gesicherten Grenze ist eine Schwelle geworden, ein Transitraum, der Europas politische und wirtschaftliche Union durchlässig macht zu einem ihrer heikelsten Außengebiete, der Türkei.

Panayi verstaut sein Visum in seiner beigen Umhängetasche und wartet auf dem kleinen Platz vor dem Grenzübergang auf den Rest der Gruppe, die er an diesem Nachmittag durch Nikosia führt – durch beide Teile der Stadt: ein Ingenieur aus dem Süden, der fließend Deutsch spricht, weil er in Frankfurt gearbeitet hat; zwei Frauen aus dem Norden mit ihren Töchtern; die Kulturjournalistin Agniezka Zakosi, die für die englischsprachige Zeitung Cyprus Mail arbeitet und eigentlich aus Polen stammt. Wäre nicht auch Brian Kelly dabei, ein Journalist aus Dublin, der seit fünf Jahren als Sprecher für die Vereinten Nationen (UN) in Zypern arbeitet, die Mischung der Gruppe hätte fast den Anschein einer ganz gewöhnlichen europäischen Kulturtouristengruppe in einer ganz gewöhnlichen Eurometropole. Die Realität hingegen knallt Stempel auf formlose Visumpapiere.

„Open Studios“ heißt die Reihe, die Panayi organisiert, „Offene Ateliers“. Für zwei Wochen im Jahr öffnen Maler, Fotografen und Performancekünstler interessierten Besuchern aus beiden Teilen der Stadt ihre Arbeitsstätten. Panayi führt sie auf seinen Touren dorthin. „Wir brauchen Möglichkeiten, uns kennenzulernen“, sagt Panayi, „auch wenn es schwierig ist, die Leute füreinander zu interessieren.“ Kennenlernen, interessieren – Panayis Projekt klingt einfach, zumindest für Europäer, die sich zu den Mitgliedern der Union zählen dürfen und Grenzen nur mehr als nostalgische Reminiszenz einer antiquierten Weltaufteilung wahrnehmen. Für die meisten Zyprioten, im Süden wie im Norden, bedeutet kennenlernen, den Blutsfeinden ihrer Väter und Mütter auf Augenhöhe zu begegnen. Seit die Grenzen geöffnet sind, besteht die Chance zur Annäherung. Auch drei Jahre später nutzen sie nur wenige.

Etwa 20 Menschen sind es an diesem Tag, die der Tour von Panayi folgen wollen. Nach der Kontrolle am Grenzübergang sammeln sie sich auf dem kleinen Platz mitten im Niemandsland, an der sogenannten Green Line, die die beiden Teile der Stadt und der Insel trennt, unter Aufsicht der UN. Ein neutraler Streifen Land, der inmitten des immer weiter wachsenden, grenzenlosen Europa seltsam vergangen wirkt. Ein Puffer, der zurzeit jedoch beständiger scheint als je zuvor. Auch wenn die Republik Zypern nun doch angekündigt hat, den freien Handel zuzulassen. Immerhin.

An eine dauerhafte Lösung für ein sich gegenseitig respektierendes Zusammenleben von türkischen und griechischen Zyprioten glaubt nach dem Veto des griechischen Teils der Insel gegen den sogenannten Annan-Plan im Jahr 2004 kaum noch jemand. Das mehrere tausend Seiten umfassende Vertragswerk der UN sah die Wiedervereinigung mit zwei föderal verbundenen Regierungen vor. Für die türkischen Zyprioten, die mehrheitlich mit Ja stimmten, hätte dies nicht nur den Zugang zu Europa mit all seiner Prosperität bedeutet, sondern auch die Abnabelung vom „Mutterland“ Türkei, das die nicht anerkannte Republik als Faustpfand für die eigenen Beitrittsverhandlungen mit der EU benutzt. Die Republik Zypern, Mitglied der EU, intervenierte. Die EU findet bis heute keine Antwort darauf.

Panayi und die Gruppe schlendern los, die Straße entlang, die durch die Green Line führt, vorbei an heruntergekommenen Häusern auf der linken Seite. Nur in einem ist Leben: in einer Art Souvenirladen, in dessen Schaufenstern bedruckte T-Shirts baumeln. Der Fußgängergrenzverkehr bringt ein wenig Geld. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind die UN-Soldaten stationiert, in einem ehemaligen Hotel, ihrem Hauptquartier. Überall an der Fassade, in Fensterrahmen Türen klaffen Schusslöcher – Spuren des griechischen Militärputschs von 1974, den die türkische Regierung als eine von drei Garantiemächten der Insel zum Anlass ihrer Intervention im Nordteil der Insel nahm. Seither sind auf beiden Seiten unzählige Soldaten und Geschütze postiert. Seit 1974 ist die Teilung der Insel geostrategisch zementiert. Gepuffert durch die UN-Blauhelme.

Deren Sprecher Brian Kelly grüßt jeden, dem die Gruppe auf der Straße durch die Green Line begegnet, mit Namen. Auf der Rasenfläche neben der Straße organisiert die UN ein Fest für Kinder und Jugendliche aus beiden Teilen. Die Stühle sind noch leer, auf der Bühne unter freiem Himmel probt eine Band. Auch die Jugendlichen, die sich aus gemeinsamen Sommerzeltlagern kennen, sollen sich einander annähern. Vielleicht sind sie jung genug, um das alte Bluts- und Gebietsdenken der Eltern zu überwinden. Brian Kelly zuckt mit den Schultern. Seine Arbeit hat ihn desillusioniert. Sie wird trotzdem weitergeführt. Die UN tut, was sie tun kann und soll. Über die Polizei- und Militärabordnungen, die in kleinen Gruppen im Nordteil der Stadt zum Grenzübergang abgezogen wurden, schüttelt Kelly trotzdem den Kopf. „Das ist ein Kinderfest, wozu braucht es da Soldaten?“, fragt er. Eine Antwort erübrigt sich. Der Aufmarsch hat symbolischen Wert. Seit einiger Zeit wird die Rasenfläche im UN-Gebiet als Fußballplatz genutzt, Spiele zwischen Nord und Süd finden trotzdem nicht statt. Ein türkisch-zypriotischer Verein darf den Rasen pflegen. Immerhin.

„Seit dem Veto der griechischen Zyprioten ist die Stimmung auf beiden Seiten sehr schlecht“, erzählt Panayi, „auch unter uns Künstlern.“ Er sieht ernst aus mit seinen klaren, braunen Augen, den dunklen Locken und dem fein rasierten Bart, der seine Oberlippe ziert. Manchmal lächelt er aufgeschlossen. Trotz des gewachsenen Misstrauens, trotz des Desinteresses, das so viele seiner griechisch-zypriotischen Mitbürger dem Norden entgegenbringen. Dann sagt er Sätze wie diese: „Wir dürfen keine Hoffnung mehr in die Politik setzen. Beide Regierungen werden von Jahr zu Jahr unflexibler und extremer.“ Gewählt habe er auch zuvor noch nie. Seine Erfahrung habe ihm gezeigt, dass die Politik in Europa und auf der Insel die Teilung nur zementiere, dass eine Vereinigung immer weiter entfernt scheine, leider. Trotzdem hält er an seinem Traum fest: „Vielleicht gelingt es der Kunst, die Einstellung der Menschen ein wenig zu verändern.“

Viele von Panayis Kollegen wollen ihr diese Bürde gar nicht erst aufladen. Indirekt bestätigt hat sie erst im Sommer dieses Jahres das Scheitern der geplanten internationalen Kunstbiennale „Manifesta 6“, die im Norden und Süden Zyperns hätte stattfinden sollen. Sie platzte, wie so viele Projekte zwischen Nord und Süd, als die einzig dauerhafte Einrichtung der Veranstaltung, eine Kunstschule, im Norden angesiedelt werden sollte. Weil eine indirekte Anerkennung der Türkischen Republik Nordzypern daraus hätte abgelesen werden können…

Hätte, sollte – es ist der Konjunktiv, der die Geschichte der Insel auch im ausklingenden Jahr 2006 als strategisches Spiel um territoriale Anerkennung erzählt. Diverse bikommunale Projekte wie gemeinsame Fernsehsendungen oder gemischte Chöre, die insbesondere türkisch-zypriotische Politiker wie der Tourismusamtsleiter als Zeichen ihres guten Willens zur Annäherung gerne anführen, sind fester Bestandteil der offiziell auf Dialog getrimmten Attitüde.

Nicholas Panayi, der 1988 sein Kunststudium beendete und dann sieben Jahre in Tschechien lebte, bleibt trotzdem. Und führt seine Gruppe weiter durch den Süden Nikosias, vorbei an den griechisch-zypriotischen Grenzbeamten, die alle locker durchwinken; vorbei an neuesten Mercedes-Taxi-Limousinen, Gucci- und Prada-Läden, vorbei an den vielen jungen Menschen, die sich auf den Weg zu Kneipen und Cafés im Zentrum machen. Der EU gehört das internationale, laute, bunte Leben, von dem sich so viele junge türkische Zyprioten nur ein paar hundert Meter weiter, jenseits der Grenze, so viel erwarteten. Schließlich hatte es ihnen ihre eigene Regierung nach dem Sturz des Präsidenten und Vereinigungsgegners Rauf Denktasch versprochen: endlich Chancengleichheit, endlich freien Zugang zu internationalen Bildungsinstitutionen, endlich freie Wahl des Arbeitsplatzes. Endlich Teil sein jenes Europas, das so stolz ist auf diese Errungenschaften – und es zu Recht sein darf. Was vielen nun bleibt, ist der Rückzug auf den Verliererstatus, auf das Beleidigtsein der Ausgeschlossenen.

Gur-Genc, ein Schriftsteller mit symbolisch geteiltem Künstlernamen, lebt mit seinen 37 Jahren schon zu lange im Nordteil, um diesen Verheißungen emphatisch vertraut zu haben. „Ich fühle mich nicht persönlich verletzt vom Nein der griechischen Zyprioten zu einer Vereinigung“, sagt der türkische Zypriote. „Ich habe es erwartet.“ Gur-Gencs Wangen und seine Nasenspitze schimmern rot; wie viele Künstler und Besucher im Kulturzentrum „Büyük Han“ trinkt er Wein aus einem weißen Plastikbecher. Es ist eine der Stationen von „Open Studios“ im Nordteil. Im Innenhof des Karrees zeigen Schnitzer ihre Holzarbeiten. Früher beherbergte die Anlage Hotelgäste, während der britischen Besatzung diente sie als Gefängnisanlage. Heute arbeiten hier Künstler.

Während Gur-Genc spricht, hallt der Ruf eines Muezzins von der gegenüberliegenden Moschee über den Hof. „Wir verdienen es noch nicht, dass die Grenze verschwindet“, meint der Schriftsteller. „Das müssen wir uns erst erarbeiten.“ Gemeinsam mit südzypriotischen Dichtern organisiert er Lesungen, bei denen seine Gedichte auch ins Griechische übersetzt vorgetragen werden. „So unterschiedlich sind unsere Bilder, ist unsere Weltsicht gar nicht“, sagt er aus dieser Erfahrung heraus, „schließlich leben wir in einer ähnlichen Situation.“ Sie teilen ein Leben auf einer geteilten Insel, von der keiner der beiden Volksstämme fliehen kann – und will. Ein Leben, trotzdem in Feindschaft.

Immer wieder sind es KünstlerInnen wie Ayhatun Atesin, die nach Verbindungen suchen, in sehr direkter Symbolik. Die türkische Zypriotin zeigt in ihrem Atelier eine Videoanimation ihrer Kunstaktion. Auf der Leinwand laufen Dutzende knallbunte Pumps-Paare durch die Straßen des türkischen Teils von Nikosia, über Mauern und Treppen hinweg, bis sie an der Grenze abprallen und doch weiterlaufen. „Frauen können alle Barrieren der Freiheit durchbrechen“, sagt Atesin. Eine Hoffnung, die für EU-Europäer kitschig klingen mag. Eine Hoffnung, immerhin.

Auch Sumer Ereks großes Langzeitwerk trägt einen sehr direkten symbolischen Titel: „Raw Earth Project“. Darin setzt sich der 47-Jährige, der längst in London lebt, in Istanbul studiert hat und sich trotzdem eng mit der Insel verbunden fühlt, mit den Themen Vertrauen und Territorium auseinander. „Eigentlich ist dies die Zusammenfassung des Zypernproblems“, erklärt der Performancekünstler, „im Kern geht es um Land, Eigentum und Mangel an Vertrauen.“ Diese Inselmentalität, die Enge, die sich auch im Denken spiegle, könne er aus der Londoner Distanz erkennen. „In meinem Alltag lebe ich ganz selbstverständlich mit allen Vorteilen der Globalisierung“, sagt Erek, „in einer multikulturellen und internationalen Gesellschaft.“ Nichts anderes wünscht sich der türkische Zypriote, der 1974 mit seinen Eltern aus dem Süden vertrieben wurde, für Zypern. Nichts ist unwahrscheinlicher als dieser Traum. „Die lange Isolation hat psychische Spuren hinterlassen,“ konstatiert Erek. Viele türkische Zyprioten warteten nun auf ein Zeichen Südzyperns. „Intellektuelle und Künstler müssen dort gegen die Boykottpolitik der Regierung von Tassos Papadopoulos opponieren.“ Ein paar wenige wie Nicholas Panayi versuchen es. Immerhin.

Als der Muezzin wieder schweigt, legt sich Stille über die engen Straßen rings um das Kulturzentrum. Vor einer Imbissbude sitzen zwei alte Männer, rauchen und schweigen. Die Luft ist staubig. Eine Plastiktüte raschelt, als eine Frau ihre Einkäufe nach Hause trägt. Die Stadt im Norden scheint zu schlafen, ein zypriotisches Dornröschen, das nur darauf wartet, wachgeküsst zu werden. Eine zerbeulte Puma-Sportschuh-Schachtel am Straßenrand lässt ahnen, wie viel Potenzial auch im Norden steckt.

Überall dort öffnen „Adidas“-, „Puma“- oder „Benetton“-Läden mit ihren importierten Fakes aus der Türkei, die einen Vorgeschmack geben auf die wirtschaftlichen Vorteile, die eine EU-Mitgliedschaft mit sich brächte. Trotz des Scheiterns der Aufnahme in die EU wächst im türkisch-zypriotischen Teil auch die Tourismus- und Baubranche. Die Türkei investiert. Die Kehrseite des Wachstums setzt Tag für Tag mit einem Katamaran nach Nordzypern über: türkische Gastarbeiter aus Anatolien und anderen ländlichen Regionen der Türkei. Sie ersetzen die vielen türkischen-zypriotischen Arbeiter, die seit der Grenzöffnung ihr Geld im Süden der Insel verdienen – mehr Geld. Auf die Gastarbeiter aus der Türkei jedoch wartet am Grenzposten mitten in Nikosia kein ovaler Stempel in blauer Farbe. Die Beamten aus dem Südteil der Insel lassen sie spüren, dass sie dritte Wahl sind – keine Zyprioten, keine Bürger der EU.

SUSANNE LANG, 30, ist „taz zwei“-Redakteurin