: „Die Moderne neu bearbeiten“
Dezentrale Recherchen und Emanzipationsmomente: Um an die Documenta 12 anzuknüpfen, verbanden sich 90 Magazine in einem weltweiten Redaktionsnetzwerk. Ein Gespräch mit dessen Leiter, Georg Schöllhammer, über Pläne und Hintergründe
INTERVIEW BRIGITTE WERNEBURG
taz: Herr Schöllhammer, die von Ihnen geleiteten Magazinprojekte der Documenta 12 werfen Fragen auf. Zunächst: Wie ist es zu verstehen, dass die Beiträge des ersten Hefts „Modernity?“ schon in verschiedenen Zeitschriften des Documenta-Magazine-Netzwerks veröffentlicht wurden?
Georg Schöllhammer: Das Projekt hat ja schon begonnen. Insofern handelt es sich um Originalbeiträge, die für die Documenta Magazines publiziert wurden. Die Documenta hat schon jetzt einen virtuellen Katalog, der aus 90 verschiedenen Zeitschriften oder Bänden und rund 300 Artikeln besteht. Die Einladung an die Magazine, sich am Projekt zu beteiligen, bedeutete, dass sie die Documenta-Fragen in ihren Redaktionen an ihre Autoren weitergeben und diskutieren sollten. Dass sie erste Themen finden und sie spezifisch auf ihr jeweiliges Publikum hin bearbeiten sollten. Aus diesem Material machen wir die drei Themenbände, die immer eine Mischung sind, aus Texten, die schon publiziert wurden, und Texten, die aus den Diskussionen entstanden. Wie etwa der Brief von Tony Chakar im Heft „Modernity?“, in dem er begründete, warum er Beirut nicht verlassen kann, um nach Hongkong zu reisen. Zu einem der transregionalen Treffen, wo wir Redakteure und Redakteurinnen, Autoren und Autorinnen, Künstler und Künstlerinnen einluden, über Format- und Kontextgrenzen wie geografische Grenzen hinweg, bestimmte Themen zu diskutieren.
Wie viele dieser transregionalen Treffen gab es? Wo fanden sie statt?
Zuerst hatten wir eine Reihe von regionalen Konferenzen, mit einer größeren Anzahl von Redaktionen, lokalen Intellektuellen und lokalen Künstlern, die die Fragen und Leitmotive der Documenta durchdekliniert und lokal noch einmal gebrochen, gespiegelt, reflektiert, aggregiert oder vermittelt haben.
Was heißt regional?
Regional heißt zum Beispiel, dass wir in Thailand waren, in Chiang Mai. Dort haben wir gemeinsam mit der Midnight University, dem Zentrum der Kritik am Coup d’État, am Militärputsch 2006, einen ganz wesentlichen Repräsentanten der buddhistischen Intelligenz Thailands eingeladen, den großen Nidhi Eawseewong, dazu Goenawan Mohamed aus Indonesien, der mit Tempo die dort wahrscheinlich wichtigste Zeitschrift begründet hat, und haben zwei Tage lang diskutiert. Solche Treffen gab es noch in Singapur, Beirut, in São Paulo, in Santiago de Chile oder in Mexiko, um nur einige zu nennen. Die großen transregionalen Treffen fanden dann in den Hubs des Goethe-Instituts statt, in Hongkong, Delhi, São Paulo, Kairo, Johannesburg, eines kommt noch in New York.
Wie funktionierte dann die Vernetzung?
Glücklicherweise war das Commitment der Magazine so groß. Wobei dabei natürlich auch der Fetisch Documenta antrieb, klarerweise. So fanden sich in eineinhalb Jahren 95 Zeitschriften zusammen, und es entstand eine Diskussion, die in Kassel in der großen Documenta-Halle weitergehen wird. Die „stillen Kolloquia“, wie wir das nannten, resultierten aus dem Wunsch, unsere dezentralen Recherchen nicht als große Events zu fahren. Man kann sie mit Fug und Recht als kleine Plattformen begreifen, im Sinn von Okwoi Enwezors Plattformen. Aber sie waren anders formatiert. Es ging um Diskursarbeit selbst, nicht deren Präsentation.
„Modernity?“ ist keine intellektuelle Starrevue. Stehen die Namen von Autoren und Magazinen, die man nicht unbedingt kennt, für redaktionellen Alltag?
So ist es gedacht. Und das Schöne ist, dass auch die großen Namen alle dabei sind. Von Jacques Rancière über Jean-Luc Nancy, Nidhi Eawseewong oder Gao Minglu finden sich die großen Namen der jeweiligen Debatten, aber immer in einen Zusammenhang eingebettet, der ihren Beitrag spezifisch macht. Hätten wir nur die großen Namen, stünde deren Rhetorik zu weit vor der Arbeit und dem Inhalt. Um die Redaktionen und ihre Beiträge zu koordinieren, arbeiten wir in Wien mit sieben Bereichsredakteuren und -redakteurinnen. Ich habe also einen ganz tollen chinesischen Mitarbeiter, Hu Fang, der jetzt zum Direktor der nächsten Triennale in Yokohama ernannt wurde, gemeinsam mit Hans-Ulrich Obrist. Ich habe mit Maria Berríos eine der vielversprechendsten jungen Kunstsoziologinnen Südamerikas gewinnen können, mit dem Autor und Kurator Cosmin Costinas einen Experten aus Südosteuropa und mit Fuad Asfour einen Sprachwissenschaftler, der sich intensiv mit dem Nahen und Mittleren Osten auseinandergesetzt hat. In diesem Team merken wir relativ früh, wo sich interessante Debatten anbahnen, die wir dann unterstützen können.
Darf Rubén Gallos Text über die Zigarette „Radio“ im Zusammenhang mit dem Siegeszug der modernen Massenmedien als repräsentativ für den Stil der Documenta Magazines gelten? Also plastisch, lokal verortet und unakademisch?
Ja, Rubén Gallo ist einer der ganz großen jungen mexikanischen Autoren. Sein Text ist sehr schön geschrieben und denkt Mediengeschichte auf eine gute Art ganz anders als üblicherweise. Das war uns auch ganz wichtig, kein Seminar- oder Proseminarheft zu machen. Wir haben versucht, auf die Bildhaftigkeit wie das Exemplarische der Texte zu achten; darauf, dass sie einem nicht zweimal dieselbe Geschichte erzählen, aber trotzdem untereinander Anknüpfungen erlauben. So haben wir auch die Künstlerbeiträge ausgewählt. Da sind Künstlerinnen, die werden Sie teilweise auf der Documenta wiederfinden, die man im internationalen Kanon bisher so nicht gesehen hat. Wir haben ganz bewusst nach Figuren gefragt, denen es im Spätmodernismus noch einmal darum ging, die Moderne durchzuarbeiten, aber auch über sie hinaus zu arbeiten, wie es etwa Lee Lazano getan hat. Oder Mariá Bartuszová, die in den bleiernen Jahren der Slowakei über Sozial- und Körpermetaphern auf sehr präzise, sublime Weise das moderne Paradigma des Sozialismus aufbrach. Es zeigt sich auf der Documenta auch eine starke Tendenz, sich performativerer Formate anzunehmen.
Was heißt performativere Formen?
Es heißt durchaus theatrale oder zeitgebundene Formen oder die Dokumentation zeitgebundener Formen. Eine solche Linie wird durch die Documenta führen. Ihr werden wir auch im zweiten Heft mit dem Titel „Life!“ folgen. Mit spannenden Beiträgen auch aus Gegenden, die im Licht der kanonproduzierenden Öffentlichkeit der letzten 20 Jahren weniger auftauchten.
Welche Länder sind das?
Serbien war zum Beispiel in den Siebzigerjahren wohl das bedeutendste Land für theatrale Experimente und experimentelle Performancekunst. Mit dem Theaterfestival Bitef wurden dort die ersten Living-Theatre-Versuche in Europa durchexerziert. Von einer Gruppe Performer blieb gerade mal der Name Marina Abramovic übrig, auch durch eine frühe Migrationsgeschichte, die zuletzt in New York endete. Da wurden spannende Sachen umgesetzt, auf einer frühen Popebene, es ging um Pop-Performances, Lebensexperimente und gleichzeitig um ganz stark theatral-ritualisierte Formen, durchaus um Vorgriffe auf Theaterformen der Achtzigerjahre. Da werden wir etwas zeigen.
Als Ihr Magazinprojekt kürzlich in Wien vorgestellt wurde, kam auch Documenta-Chef Roger Buergel auf den Zusammenhang von Magazin und Ausstellung zu sprechen. Es fiel das Stichwort Malaysia, leider blieb es beim Stichwort. Was hat es mit Malaysia auf sich?
Malaysia ist ja eines der großen islamischen Länder und mit Indonesien eine ganz wichtige Region für eine Art säkularisierten Islam. Dort fanden sich künstlerische Positionen, die auf ungeheuer kreative Art mit den ganzen Symbolsystemen des Islam umgehen. Es kommt dazu, dass Malaysia eine Projektionsfläche für den ganzen Raum geworden ist. Man spricht von KL, wie wir von L. A. sprechen. Der Großraum Kuala Lumpur verheißt liberales Leben, dort wünscht man sich hin, und dort entstehen auch spannende Dinge, zum Beispiel Tanzperformances, die in etwas anderes, Neues übergehen, das man noch gar nicht richtig benennen kann, weil uns der Begriff fehlt.
Im außereuropäischen Raum verbindet sich mit Moderne mit der Erfahrung des europäischen Kolonialismus.
Ja. Aber interessanterweise sind die heutigen Debatten stark von Ablösungsbewegungen geprägt, sowohl gegenüber den postkolonialen Debatten der Sechziger, wo es stark um Identität ging, etwa der Pan-Afrika-Idee, aber auch gegenüber den späteren, regionalen Modernen der Befreiungsbewegungen. Die eigene Position wird nicht mehr nur in Widerspruch, sondern auch in dialektischer Verbindung zum Kolonialismus gesehen.
Heißt das, dass die Moderne eine Art Re-entry hat?
Ja, das kann man sagen. Ihre emanzipatorischen Momente erregen neues Interesse und werden wiederentdeckt. Dabei entwickeln sich Debatten zwischen Magazinen aus Argentinien und Chile und solchen aus Polen, Rumänien oder Jugoslawien. Südamerika redet mit Osteuropa, und gemeinsam wird die ganze vernachlässigte Geschichte der Blockfreien erschlossen. Das reicht bis in persönliche Migrationsgeschichten von Künstlern, die aus Jugoslawien nach Argentinien auswanderten oder aus Polen nach Mexiko gingen. Ganz andere Wege als die der großen Handelswege finden plötzlich Beachtung. Ein Kollege aus Indien hat jetzt mit anderen Kollegen aus Asien angeregt, über die ungeheure Schizophrenie kultureller Güterkontrolle in den großen Städten Asien zu arbeiten. Sie stehen unter autoritären Regimen, die hochzensorisch unterwegs sind. Aber auf den großen Märkten ist alles zu haben. Sie kriegen in Thailand jeden europäischen Avantgardefilm der Sechzigerjahre, selbst einen von Friedel Kubelka. Wir fragen uns gerade, welchen Ökonomien das nutzt.
Das hört sich nach einem besseren Zugang an als bei uns?
Ja, über Piraterie haben sie teilweise einen besseren Zugang als wir. Da sind ganz eigenartige Verschiebungen im Gange. Diese Güterproduktion und -distribution hat natürlich auch wieder ihre Schließungen, wenn Sie in die Migrantenviertel schauen, in denen der nationale Kitsch gepflegt wird.
Wenn es ein Re-entry der Moderne gibt, gibt es auch ein neues Interesse am Formalismus?
Absolut. Es gibt ein neues Interesse am Formalismus, ein neues Interesse an der Rücknahme von Erzählrhetoriken, die stark dokumentarisch sind. Übrigens parallel mit einer wachsenden Produktion dokumentarischer Formate. Es existiert eine Reformalisierungsdebatte neben einer politisch-dokumentarischen Debatte. Auffälligerweise gibt es kaum mehr Medienkunstdebatten. Dazu kommt eine Debatte um den Markt, große Namen, große Installationen und Objekte. Aber das hat nichts mit der Formalismusdebatte zu tun, die wir meinen.
Sind diese neuen formalistischen Ansätzen also weniger avantgardistisch kontextualisiert, sondern, wie Sie vorhin sagten, emanzipatorisch?
Richtig, sie sind in das politische Feld eingebettet. Man könnte von einem inhaltistischen Formalismus sprechen, der auf der Documenta präsent sein wird.