: Die neuen Mitbewohner
In der Nordsee breitet sich die Pazifische Auster aus. Die wird unter Gourmets sehr geschätzt, droht aber auch, die heimische Miesmuschel zu verdrängen. Wird die Miesmuschel jetzt zur Seltenheit?
von Antje Lang-Lendorff
Wenn die Flut kommt, fährt Wolfgang Christoffers mit seinem Kutter hinaus ins Watt. Das Wasser steht dann hoch genug über den Muschelbänken. Er lässt das Netz hinunter und zieht es mit dem Kutter über den Grund. Seit über vierzig Jahren fischt er in der Nordsee nach Miesmuscheln, wie sein Vater vor ihm. Doch in letzter Zeit hat sich etwas verändert. Immer öfter findet er in seinem Netz dicke, klumpige Austern. „Ganze Miesmuschelbänke sind inzwischen von den Austern überwuchert“, sagt er.
Was Christoffers beobachtet, ist auch wissenschaftlich nachgewiesen: In der Nordsee breitet sich die Pazifische Auster massenhaft aus. Ursprünglich wurde sie in Aquakulturen in den Niederlanden und auf Sylt als Ersatz für die im Wattenmeer ausgerottete europäische Auster gezüchtet. Offenbar fühlten sich die asiatischen Schalentiere in der Nordsee wohler als gedacht. Die Larven büxten aus und schwammen mit der Strömung weiter. „1998 haben wir im Niedersächsischen Wattenmeer zwei Austern gefunden. 2003 waren es schon rund 60.000. Schätzungen zufolge gab es im vergangenen Jahr mehrere 100 Millionen Austern“, sagt Achim Wehrmann vom Senckenberg Institut in Wilhelmshaven, der die Ausbreitung untersucht.
Für Privatleute hat die Entwicklung zunächst viele Vorteile. Kenner schwärmen vom Geschmack der wild wachsenden Auster. Ob roh mit Zitrone oder im Ofen überbacken: Die wilde Muschel soll alles übertreffen, was es an gezüchteten Austern gibt. Da sie inzwischen vor allen nord- und ostfriesischen Inseln wächst, kann jeder durchs Watt laufen und einen Korb voll sammeln. Paradiesische Zustände.
Doch die Invasion der Pazifischen Auster verändert auch das Wattenmeer. Da die Auster zum Wachsen einen festen Untergrund braucht, besetzt sie nicht nur Steine und Hafenmauern, sondern macht sich auch auf den Schalen der Miesmuscheln fest - und wird so zu deren Verhängnis. „Wenn das so weiterläuft, wird es für uns eng“, sagt Muschelfischer Christoffers. Auch im niedersächsischen Landwirtschaftsministerium sorgt man sich um die Miesmuschelbestände. „Wir haben für das Problem bisher keine Lösung gefunden,“ sagt Sprecher Gert Hahne.
Wird die Delikatesse zur Massenware und die gewöhnliche Miesmuschel zur Seltenheit? Nicht ganz. Denn bis heute darf die Auster im Wattenmeer nicht befischt werden, es sei denn, sie geht als Beifang ins Netz. Viele glauben auch, dass die wilden Gewächse für die kommerzielle Nutzung nicht geeignet sind. Christoffers sagt: „Einzelne mögen gut schmecken. Aber sie wachsen oft zusammen, manchmal 30 Stück auf einem Haufen, die könnte man so gar nicht verkaufen.“ Ministeriumssprecher Hahne teilt diese Einschätzung. „Die sind so verklumpt und scharfkantig, die will kein Laden haben“, sagt er.
Lange ging auch Meeresforscher Achim Wehrmann davon aus, dass die Pazifische Auster für das Wattenmeer und seine Bewohner vor allem ein Ärgernis ist. Auch für die Vögel: Sie können die Austernschale nicht durchpicken und schneiden sich daran nur die Füße auf. Doch gerade das birgt nun wiederum eine Chance für die Miesmuscheln. „Wir haben jetzt festgestellt, dass die Austern den heimischen Muscheln an manchen Stellen auch Schutz bieten, weil sie von Silbermöwen gemieden werden“, erklärt Wehrmann. Zwischen den 15 bis 20 Zentimeter großen Austern hätten sich vielerorts junge Generationen von Miesmuscheln angesiedelt, gut geschützt vor gefräßigem Federvieh. „Es sieht also so aus, als ob es nicht zu einer echten Verdrängung kommt.“
Das bringt Wolfgang Christoffers erst mal nichts, denn gemischte Muschelbänke kann er nicht befischen. Doch auch für ihn und alle Miesmuschelfreunde gibt es Hoffnung. „Vom südlichen Bereich der Nordsee wandert eine Schnecke mit dem Namen Rapana venosa die Küste herauf. Sie kann die Austernschale durchbohren und das Innere aussaugen“, sagt Wehrmann. Die Schnecke, die ursprünglich ebenfalls aus dem Pazifik stammt, könnte der natürliche Feind werden, der die Auster an ihrer rasanten Ausbreitung hindert. Und die verbliebenen Miesmuschelbänke so vor der Überwucherung bewahrt.