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Archiv-Artikel

Der neue Kaputtalismus

APOKALYPSE Lange war sie out, die Zusammenbruchstheorie. Jetzt denken sogar moderate Wissenschaftler über „das Ende des Kapitalismus“ nach

Robert Misik

■ ist freier Publizist in Wien mit dem Schwerpunkt Globalisierung und Wirtschaftspolitik (misik.at). Letztes Buch: „Supermarkt Europa. Vom Ausverkauf unserer Demokratie“, mit Michel Reimon (Wien 2014).

Der Kapitalismus ist voll der inneren Widersprüche, die sich immer mehr zuspitzen: Da ist sich die Linke seit Marx ganz sicher. Komischerweise ist sich die Linke aber überhaupt nicht sicher, was das eigentlich bedeutet: Zuspitzung der inneren Widersprüche. Über die Frage, ob Marx die Deutung nahelegte, dass der Kapitalismus zusammenbrechen muss, oder ob er vielleicht sogar das Gegenteil nahelegte, darüber streiten Marxologen seit 150 Jahren.

Müllhaufen der Wünsche

In jedem Fall aber hat sich der Kapitalismus als robuster und überlebensfähiger erwiesen, als Marx angenommen hatte. Die „Zusammenbruchstheorie“ wurde recht bald auf den Müllhaufen gekippt (gemeinsam mit der „Verelendungstheorie“ und anderen eindimensionalen Prognosen). Eduard Bernstein, enger Freund Friedrich Engels, verkündete: „Die Sozialdemokratie hat […] den baldigen Zusammenbruch des bestehenden Wirtschaftssystems […] weder zu gewärtigen noch zu wünschen.“

Über die Erfolgschancen dieser sozialreformerischen Zähmung und Stabilisierung des Kapitalismus wurde zwar weiter debattiert, doch die Frage, ob das Wirtschaftssystem „notwendigerweise“ seinem Kollaps entgegengehe, war bald nur noch in halbesoterischen Politsekten ein Thema. Dass der „baldige Zusammenbruch“, wie Bernstein so schön schrieb, „zu gewärtigen“ sei, daran glaubte kaum jemand.

Doch jetzt kehrt sie plötzlich wieder zurück: die Zusammenbruchstheorie. Zunächst im Polit- und Ökonomiesachbuchwesen („Der Crash ist die Lösung“ u. Ä.), dann in vernünftigeren Kreisen. Nachdem Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman die Möglichkeit eines „permanenten Niederganges“ erörtert hat, warf sogar Wolfgang Streeck, Direktor des Max-Plank-Instituts für Gesellschaftsforschung, in einem Essay die Frage auf: „How Will Capitalism End?“ (erschienen in der New Left Review).

Der Kapitalismus ist eine stete Flucht nach vorne, die nur funktioniert, wenn die Erlöse morgen höher sind als heute. Denn alle Einkommen in der Periode X reichen gerade aus, um die Produkte, die in der Periode X hergestellt werden, verkaufen zu können. Nun wollen Unternehmen Profite machen, zudem investieren sie auf Pump – damit das möglich ist, also in der Periode X + 1 mehr Geld im System ist, braucht es Geldausweitung durch Kredit. Solange es ordentliches Wachstum gibt, lassen sich die Schulden leicht bedienen. Der Kredit schafft also die Ausweitung der Produktion und die zusätzliche Nachfrage.

Nun funktioniert das seit Jahrzehnten nicht mehr wirklich gut. Mehrere „Krisensymptome“, schreibt Streeck, seien die Folge: „Das erste ist der anhaltende und dauerhafte Niedergang der Wachstumsraten, das zweite der stetige Anstieg der Verschuldung der führenden kapitalistischen Volkswirtschaften, und zwar der Regierungen, der privaten Haushalte und der Unternehmen …“ Heute beträgt der Verschuldungsgrad zwischen 300 und 400 Prozent des BIP, vor ein paar Jahrzehnten lag der Wert gerade bei einem Viertel. Symptom Nummer drei: „Die wachsende Ungleichheit“. Denn auch die Ungleichheit ist Symptom von Verschuldung, weil die einen Schulden auftürmen, die anderen Vermögen. „Immer geringeres Wachstum, immer höhere Ungleichheit und andauernd steigende Verschuldung sind nicht unendlich tragfähig“, formuliert Streeck.

Das Problem ist, dass niemand in den Technokratenzirkeln eine Idee hat, wie die ächzende Maschine repariert werden könnte.

„Das Bild, das ich vom Ende des Kapitalismus habe […], ist das von einem Gesellschaftssystem im chronischen Verfall“, so Streeck. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade sein Triumph den Kapitalismus möglicherweise in diese Lage gebracht hat. Der siegreiche Kapitalismus „wurde sein eigener schlimmster Feind“. Sozialistische Bewegungen, sozialdemokratische Reformen und Keynesianismus hatten einen gewissen sozialen Ausgleich gebracht, somit Verschuldungs- und Vermögenswachstum jahrzehntelang gebremst, für stetig wachsende Nachfrage und für die nötigen Wachstumsraten gesorgt. Erst mit dem Zusammenbruch der Gegenposition ist dieses Erfolgsarrangement verblichen, weshalb der Kapitalismus jetzt auch sterbe – gewissermaßen „an einer Überdosis seiner selbst“.

Die Krisen des Sommers

Erstaunlich ist, dass es seit zwanzig Jahren kaum mehr nennenswertes Wirtschaftswachstum gibt, und das trotz aller schuldengetriebener Blasenbooms. Die Erscheinungen des Zusammenbruchs sind: eine permanente Quasi-Stagnation mit allenfalls Mini-Wachstumsraten, explodierende Ungleichheit, Privatisierung von allem, endemische Korruption und Plünderei, da normale realwirtschaftliche Profitmöglichkeiten immer geringer werden. Ein daraus folgender moralischer Niedergang (Kapitalismus wird mehr und mehr mit Betrug, Diebstahl und schmutzigen Tricks verbunden), ein schwächelnder Westen, was Desintegrationsprozesse an der Peripherie, Krisen und Brandherde schürt (man denke an die dramatischen Krisen dieses Sommers!).

Wie realistisch ist es, dass ein solch radikaler Sozialdemokratismus auf globaler Ebene möglichst rasch durchgesetzt wird?

Nun ist das alles ökonomisch völlig stimmig, ließe sich aber auch reparieren: durch massive Umverteilung von oben nach unten, Vermögens- und Schuldenreduktion, damit Stärkung der Nachfrage. Kurzum, mit dem Instrumentarium des klassischen keynesianisch-sozialdemokratischen Arztkoffers. Aber wie realistisch ist es, dass ein solch radikaler Sozialdemokratismus auf globaler Ebene möglichst rasch durchgesetzt wird? Sehr unwahrscheinlich, bedenkt man, dass sich die Eliten schon gegen geringste Vermögensteuern sperren. Nach uns die Sintflut!

Folgt man Streeck, dann sind wir Zeitgenossen des Zusammenbruchs. Wobei der „Zusammenbruch“ weniger ein plötzlicher Kollaps ist als vielmehr ein Prozess, der aus vielen Ereignissen besteht. Wobei auch die chronische Katastrophe in einem finalen Ereignis kulminieren kann, etwa dem Zusammenbruch eines systemrelevanten Finanzinstituts.

Was aber passiert, wenn eines Tages keine Kohle mehr aus dem Geldautomaten kommt, weiß der Geier. Vielleicht ist das die finale Gemeinheit des Kapitalismus: dass man sich nicht einmal auf sein Ende freuen kann.

ROBERT MISIK