: Wildwest in Nahost
Aus Solidarität mit einem entführten BBC-Kollegen streiken Palästinas Journalisten. Wird der Gaza-Streifen zur No-go-Area für Medien?
AUS JERUSALEM SILKE MERTINS
Bei der BBC zählt man jeden einzelnen Tag. „Am Montag waren es genau drei Wochen“, sagt Jonathan Baker, der stellvertretende Nachrichtenchef des britischen Senders. Der BBC-Reporter für den Gaza-Streifen, Alan Johnston, hatte sich gerade auf den Heimweg gemacht, als bewaffnete Männer seinen silbergrauen Skoda anhielten und ihn zum Mitkommen zwangen. Eine Visitenkarte, die Johnston offenbar als Hinweis auf dem Autositz des Mietwagens hinterlassen hatte, ist das letzte Lebenszeichen.
Zu Anfang hielten sich die Sorgen in Grenzen. Seit 2005 sind bereits 14 Journalisten im Gaza-Streifen entführt worden. Immer wollten die Kidnapper Geld, Jobs bei der Autonomiebehörde und Straffreiheit. Die Geiseln kamen meist nach wenigen Tagen wieder frei. Doch in diesem Fall ist alles anders. Von den Entführern fehlt jede Spur. Es gibt keine Nachricht, keine Forderungen, keinen Kontakt, nichts. Noch nie ist ein westlicher Ausländer so lange festgehalten worden.
Johnstons Verschleppung ist eine Zäsur. Schon lange sind keine Korrespondenten mehr in Gaza stationiert. Der 44-jährige BBC-Reporter war der letzte. Die meisten ausländischen Berichterstatter reisen lediglich für ihre Berichte ein. Wenn es nicht anders geht, bleiben sie für ein paar Tage. Die Mehrheit zieht allerdings schon vor Einbruch der Dunkelheit wieder ab.
Mit dem Fall Johnston könnte der Gaza-Streifen nun sogar zur No-go-Area für ausländische Journalisten werden. Selbst die BBC macht es vom Ausgang der Geiselkrise abhängig, ob sie wieder einen Korrespondenten entsenden wird.
„Ich bin wütend, wahnsinnig wütend“, sagt Naim Tubasi, Präsident der Palästinensischen Journalistenunion. „Die internationalen Reporter machen sich die Mühe, zu uns zu kommen, um der Welt die Wahrheit über unsere Lage zu berichten, und dann das. Was soll bloß aus Palästina werden?“ Seit Wochen schon protestieren Tubasi und seine Kollegen – gegen die Kidnapper, vor allem aber gegen Autonomiebehörde. „22 Tage ist Alan verschwunden, und was hat die Regierung gemacht? Nichts!“
Die palästinensischen Journalisten haben deshalb nun einen Streik ausgerufen. Drei Tage lang will keiner von ihnen über die Regierung und den Präsidenten berichten. Die Kabinettssitzungen werden ignoriert. Ebenso der Besuch von Nancy Pelosi, der Präsidentin des US-Abgeordnetenhauses. Nützt auch das nichts, so Tubasi, würde ein Generalstreik ausgerufen.
Der Ärger ist auch deshalb so groß, weil die Entführungen den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in den palästinensischen Gebieten widerspiegeln. Westliche Experten, die am Aufbau staatlicher Institutionen beteiligt sind, beklagen schon lange die vorherrschende Wildwestmentalität. Bewaffnete Anhänger von Hamas und Fatah haben beispielsweise immer wieder auf das Parlament geschossen, Feuer gelegt, das Inventar von Ministerien kurz und klein geschlagen, ohne dass ein Richter wagen würde, sie zur Verantwortung zu ziehen. Mit den Entführungen ist es ähnlich. „Keiner der Entführer wurde bisher verhaftet oder gestellt“, kritisiert Reporter ohne Grenzen. „Die Straflosigkeit ermutigt potenzielle Kidnapper.“
Nicht wenige Intellektuelle fragen sich, ob sie die Geiselkrise mitverschuldet haben. „Wir haben zu lang geschwiegen“, so Bassam Nasser, Direktor des Palästinensischen Zentrums für Demokratie und Konfliktlösung in Gaza. „Jetzt müssen wir mit den Konsequenzen leben.“