: Traumhaft Verlorenes
SCHLOSSJUNGFER Eine Insel, von der Havel umstrudelt und von der Zeit: Thomas Hettche erzählt in seinem Roman „Pfaueninsel“ respektvoll von einer versunkenen Welt
VON HANS-JOST WEYANDT
Von Riesen und Zwergen, von schmuck uniformierten Königen und edlen Wilden erzählt dieser Roman, von Löwen und Affen und Papageien, und wie sie auf einer kleinen Insel in der Havel vor Potsdam zusammenfinden unter mächtigen Palmen und zwischen prächtigen Bauten ungefähr zu der Zeit, als die Brüder Grimm ihre Volksgeschichten sammeln. Aber dieser Roman mit dem verwunschen schönen Titel, „Pfaueninsel“, ist kein spätes preußisches Pendant zu den hessischen „Kinder- und Hausmärchen“, auch wenn sich in ihm viel Märchenhaftes findet: traumhaft Verlorenes wie das Bild von der Schlossjungfer und dem Löwen, die so friedlich nebeneinanderschlafen, dass selbst der Erzähler vergisst, die Gitterstäbe zwischen den beiden zu erwähnen. Er kann darauf verzichten, weil jeder weiß, das Tier ist gefangen. Aber auch, weil die Gefangenschaft im Lauf der Zeit so selbstverständlich geworden ist, dass für Momente die Gitterstäbe nicht mehr zu existieren scheinen.
Vom Vergehen der Zeit, wie sie sich riesenhaft streckt oder zwergengleich unter die Erde verkrümelt, erzählt dieser Roman im steten Wechsel der Jahreszeiten. Vom irren Fliehen der Zeit erzählt er auch, in einem Bild, das die zum Himmel gerichteten Augäpfel eines gefangenen Äffchens beschreibt, in denen sich die dahinhuschenden Wolkenfetzen spiegeln. Die Meerkatze schaute wohl bis zu ihrem Tod dem vorbeiflitzenden Leben im Himmel zu, würde sie nicht erlöst von jener Schlossjungfer, die sich bereits neben den sterbenden Löwen legte. Die Frau bläst dem Tier sanft den Rauch einer Zigarre ins Gesicht.
Sie heißt Marie Strakon, kommt Anfang des 19. Jahrhunderts auf die Insel und überlebt fast alle der unüberschaubar vielen, die nach ihr eintreffen. Thomas Hettche hat ihren Grabstein gefunden auf einem Dorffriedhof vis-à-vis der Insel. Außer Rang und Namen ist nichts von der Schlossjungfer Marie Strakon geblieben, doch aus beidem hat Hettche eine fantastische Figur entwickelt, ungeachtet der Warnung seines braven Erzählers, der zweiten großen Erfindung Hettches, gleich zu Beginn, den irrigen Vorstellungen nicht zu vertrauen, die sich mit Namen verbinden. Hettches Marie ist kleinwüchsig wie ihr Bruder, und als Zwergenpaar werden die beiden zur königlichen Unterhaltung auf die Insel verbracht, eine Rokoko-Kuriosität – und kurios befremdet den Leser, wie vollkommen Marie ihr Zwergenobjektsein verinnerlicht: Selbstverständlich erleichtert sie den König, wenn es seine sexuelle Not verlangt. Sie selbst hat Sex mit dem Bruder, der als Faun über die Insel streift, und so könnte auch ihr zukunftsloses Leben wie bei all ihren Nachfolgern vergehen: bestimmt vom Warten auf den Tod.
Die Ankunft von Menschen, Tieren und botanischen Sensationen inszeniert der Erzähler zu den großen Ereignissen, die sie in Maries Leben waren, gekrönt von jenen majestätischen Palmen, die sich auf einem Havelkahn der Insel nähern wie ein pharaonisches Boot auf dem Nil. Doch kein gottgleicher Herrscher nimmt sie in Empfang, und die Leerstelle des Schöpfers beansprucht Peter Joseph Lenné, Landschaftsarchitekt und Diener des preußischen Königs, flankiert von den Stararchitekten Schadow und Schinkel, sekundiert von den idealistischen Theoretikern des Naturschönen und mithilfe der modernen Technik. Bald wummert eine Dampfmaschine in der ländlichen Stille, die Pflanzen brauchen mehr Wasser, als die Insel geben kann, doch aller Aufwand kann nicht verbergen: Was zu einer märchenhaften Parklandschaft werden sollte, einem mikrokosmischen Gesamtkunstwerk, offenbart sich als stinkender Friedhof der Hybris. Die Tiere verrecken, die Pflanzen gehen ein, das Publikum schwindet, der König bleibt fern, die Mittel werden gestrichen. Nur die Pfauen bleiben, ein paar Gärtner und Marie.
Wie man die Zeit erzähle, fragt der wunderlich altmodische Erzähler, als er das Leben des Schlossfräuleins fast vollständig erzählt hat, chronologisch, doch zugleich kühn konstruiert mit essayistischen Einschüben, perspektivischen Brüchen, mit anachronistischen Marotten und den Mitteln jener bürgerlichen Romane, die vielleicht Maries Idee mitgeformt haben, jenem Dasein als Monster zu entkommen, zu dem sie sich durch einen unbedachten Schreckensruf der schönen Königin Luise verdammt fühlt. Sie verliebt sich in einen jungen Gärtner, der Hegel liest, und antwortet ihm mit Rousseau. Das Missverständnis, eine bürgerliche Frau werden zu können, bei aller Distanz voller Zärtlichkeit erzählt, endet in einem Trauerspiel, wie es dem 19. Jahrhundert zukommt. Der Gärtner macht Karriere im dynamisch sich entwickelnden Preußen, und Marie bleibt als Anachronismus zurück auf der Pfaueninsel, umstrudelt von der Havel. So kann die Zeit erzählt werden, die in einem Grabstein ruht: respektvoll wie Thomas Hettche.
■ Thomas Hettche: „Pfaueninsel“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 352 S., 19,99 Euro