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Archiv-Artikel

Dies Leben gluckert

Ein modernes Märchen vom einem, der ausziehen muss, um das Glück zu suchen: „Dieses Buch wird Ihr Leben retten“ von A. M. Homes

VON KATHARINA GRANZIN

Wie wirklich ist diese Wirklichkeit? Der reiche, zurückgezogen lebende Börsenspekulant Richard Novak (i. e. „nouveau riche“) erleidet in seinem schicken Haus auf den Hügeln von Beverly Hills eine Schmerzattacke. Schon wähnt er sich am Rande des Todes, doch nach einer Nacht im Krankenhaus verschwindet der Schmerz auf ebenso unerklärliche Weise, wie er gekommen ist. Richard kehrt ins Leben zurück, durch den Schock offen geworden für die Welt um ihn herum. Nacheinander schließt er Freundschaft mit: einem südasiatischen Einwanderer, der vom Doughnutbacken lebt, einer verzweifelten Hausfrau, die gerade ihre Familie verlässt, einem Filmstar, der gern mexikanisch kocht, einem Hund und einem ehemals berühmten Autor. Außerdem rettet er ein Pferd aus einem Erdloch und eine entführte Frau aus einem Kofferraum. In dieser Kürzestfassung klingt das nach einer bloßen Kompilation von Versatzstücken beliebter Fernsehserien. Das Gesamtergebnis aber ist eine Erzählung, die an der Oberfläche heiter dahinplätschert, derweil es im Untergrund mit beständiger Subversivität dunkel gluckert.

Ob dieses Gluckern bedrohlich ist oder im Grunde gutartig, ist schwer zu entscheiden. Die Antwort liegt wohl am ehesten in dem mysteriösen Loch, das das programmatische Bedeutungszentrum des Romans darstellt. Am Anfang beobachtet Richard vom Fenster aus, wie sich auf seinem Grundstück eine Mulde im Boden bildet, die immer tiefer zu werden scheint. Zunächst gerät ein Pferd hinein, kommt dann, stetig sinkend, nicht mehr hinaus, und kann nur mit Hilfe des Filmstar-Helikopters gerettet werden. Als das Loch noch tiefer wird, muss Richard ausziehen. Erst gegen Ende des Romans, nachdem es ihm gelungen ist, den verlorenen Kontakt zu seinem Sohn wiederherzustellen, scheint das Loch sich zu beruhigen und kann wieder aufgefüllt werden.

Wenn es sich hier um eine realistische Erzählung handeln würde, wäre dies eine plumpe Metapher. Doch ist dies lediglich ein Roman von realistischem Duktus: eine surrealistische Romanattrappe sozusagen. Und das Loch ist, über die allzu klare Metapher hinaus, ein grundlegend mysteriöses Symbol für irgendetwas; so wie es denn auch im Märchen sehr greifbare und dabei äußerst rätselhafte Symbole für allerlei Unnennbares gibt, die tief im kollektiven Unterbewusstsein wurzeln. Auch dies hier ist nämlich so ein Märchen von der Art, wo einer auszieht, um das Glück zu suchen. Die traurige Erkenntnis, die irgendwo darunter liegen mag, könnte sein, dass das Glück gar nicht existiert. Jedenfalls nicht für einen Helden wie diesen.

Denn auch nach Richards schmerzhaftem Erweckungserlebnis unterscheidet sich sein neues Leben in einem grundlegenden Punkt nicht vom alten: in den Hilfsmitteln und Mittelsleuten, deren Dienste er braucht, um zu existieren. Da gibt es die Ernährungsberaterin, die Fitness-Trainerinnen, Meditationslehrer, Masseurinnen, Ärzte, Makler, Einrichtungsberaterinnen und natürlich die Erdlochexperten und Handwerker, die auf Richards absinkendem Grundstück tätig sind. Nur die Haushälterin hat während des ganzen Romans Urlaub, um sich eine künstliche Hüfte einsetzen zu lassen. Das alles ist von tückisch milder Absurdität, denn die auch in der deutschen Übersetzung alltagsnah lässige Erzählweise lässt die Künstlichkeit dieses Lebens im Service-Schlaraffenland als das Selbstverständlichste der Welt erscheinen. Und doch ist dies keiner jener Romane, die mit der gezielten Diskrepanz von Inhalt und Form eine ausschließlich entlarvende Wirkung erzielen wollen. Das natürlich auch. Doch fühlt man sich andererseits freundlich eingeladen, die Absurdität des Ganzen entzückt zu goutieren und zugleich auf Richards Seite zu stehen bei seiner Suche nach dem richtigen Leben im falschen.

Wer naschhaft veranlagt ist, kann es beim Lesen mit sporadischen Heißhungerattacken auf süße, fettige Zuckerkringel zu tun bekommen. Dank Anhil, Richards neuem Einwandererfreund, werden praktisch ununterbrochen Doughnuts verzehrt. Mit diesem Gebäck, so scheint es, verteidigt die Autorin die uramerikanische Lust am ungehemmten Genuss gegen die kalifornische Gesundheitsneurose. Eigentlich aber ist das Wichtigste am Doughnut natürlich das Loch in der Mitte.

A. M. Homes: „Dieses Buch wird Ihr Leben retten“. Deutsch von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007. 446 Seiten, 22,90 Euro