: Das Tal überblicken
Alle Jahre wieder: Tokio Hotel spielten im Tempodrom. Diesmal wurden die Väter als Begleitpersonal abgestellt
Gelangweilt sitzen Erwachsene an Bierzelttischen im Foyer des Velodrom. Laut Schild heißt das heute „Eltern Warteraum“; es gibt Donuts und Kaffee, geredet wird kaum.
Drinnen aber geht es ab: Hier setzt sich der immer noch nicht volljährige Sänger Bill Kaulitz der Band Tokio Hotel mit seiner knappen Lederjacke gekonnt in Szene. Seine Ansprachen zwischen den Songs – sie beginnen alle mit einem vertraulichen „Wisst ihr“ – sorgen für schrille Schreie unter den Fans, von denen manche wohl dieses Jahr eingeschult werden. Beim letzten Berlin-Konzert von Tokio Hotel tauchten noch viele im Bill-Style (Kajal und eigenwillig geföhnte Haare) auf, diesmal wirkt das Fanvolk eher gemäßigt.
Mäßig gestaltete sich auch der ruhige Tourstart zum neuen Album „Zimmer 483“ mit seinen düster rockenden Songs. Vielleicht haben noch jüngere Bands wie Nevada Tan oder Killerpilze (bei denen ist niemand über 17!) einen Anteil daran, dass viele Tokio-Hotel-Tickets unverkauft blieben – auch das Tempodrom ist am Donnerstag höchstens zu drei Vierteln gefüllt. Aber trotzdem: Die Hingabe, mit der die verbliebenen Fans ihre Begeisterung für die vier Magdeburger zelebrieren, ist konkurrenzlos. Auch dieses Mal sind sie schon morgens losgezogen, um sich einen Platz weit vorne zu sichern.
Aber das frühe Aufstehen wäre kaum nötig gewesen: In jedem Moment des Konzerts lässt sich die Bühne problemlos erreichen. Über dieser hängen riesige silberne Waschbretter, die sich zum Hit „Schrei“ Raumpatrouille Orion-gleich heben und senken. Sehr simpel, aber sehr effektvoll, auch das. Irgendwann steht Bill auf einer Empore, seine wilde Mähne wird von einer unterirdischen Windmaschine richtig zur Geltung gebracht. Er erinnert an Disneys Simba, der auf einer Klippe steht und – ganz König der Löwen – sein Tal überblickt.
Nur die schönen, am Rand spielenden Szenen sieht er nicht: Ein besorgter Vater kontrolliert den Sitz der Stöpsel im Ohr seiner Tochter, ein anderer krempelt der seinen die Ärmel hoch, dass man das aufgeklebte Tattoo sieht. Vielen wird der Rücken schmerzen, da der Nachwuchs auf ihren Schultern gnadenlos im Takt wippt. Letztes Jahr waren mehr Mütter da. Die Väter hatten sicher gesagt: „Schatz, geh du diesmal mit, ich nächstes Mal.“ Sie vermuteten wahrscheinlich, bis dahin habe sich das mit der Band erledigt. Vielleicht kommen die Mütter im nächsten Jahr ums Ausrücken herum – Ruhmverfall oder der Zivildienst werden’s richten. LENA HACH