: Das Land der Wahlverweigerer
Sachsen-Anhalt stellt einen neuen Rekord im Nichtwählen auf: Nur 20 Prozent der Wahlberechtigten gaben bei der zweiten Runde der Kommunalwahlen ihre Stimme ab. Politiker rügen all jene, die lieber zu Hause geblieben sind, als zu wählen
AUS MAGDEBURG MICHAEL BARTSCH
Die zweite Runde der Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt hat die bislang schlechteste Wahlbeteiligung in Deutschland aus dem ersten Wahlgang nochmals unterboten. Gingen vor zwei Wochen 36,5 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen, um Kreistag und Landräte in den neu gebildeten Kreisen zu wählen, waren es am vergangenen Sonntag nur noch 20,1 Prozent. In fünf der elf neuen Großkreise waren Stichwahlen erforderlich, weil die Landratskandidaten nicht auf Anhieb eine absolute Mehrheit erreichten.
Die CDU bekam die meisten Wählerstimmen und stellt drei der fünf Landräte. Durch die extrem geringe Wahlbeteiligung kam es zu äußerst knappen und überraschenden Ergebnissen. So lagen die Kandidaten von CDU und SPD teilweise nur wenige hundert Stimmen auseinander.
In Wittenberg setzte sich beispielsweise überraschend Jürgen Dannenberg von der Linkspartei durch, der im ersten Wahlgang noch sechs Prozentpunkte hinter dem Konkurrenten von der CDU gelegen hatte.
Wie schon vor zwei Wochen äußerte sich Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) besorgt über das Desinteresse der Bevölkerung. „Zusammen mit den wachsenden Aktivitäten der Rechtsextremisten sehe ich in der grassierenden Politikverdrossenheit eine ernste Gefahr für unsere Demokratie“, sagte er der Zeitschrift Super Illu. Das mangelnde Engagement der Bürger biete Neonazis einen Nährboden, die die Parlamente als „Schwatzbuden“ verunglimpfen würden.
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) hatte nach dem ersten Wahlgang auch die Wähler und ihr mangelndes Vertrauen in die Demokratie, besonders in Ostdeutschland, gerügt. „Es ist auch Desinteresse, Faulheit und der fehlende Glaube, dass man mit seiner Wählerstimme etwas erreichen kann“, so der Bundestagsvizepräsident.
Ministerpräsident Wolfgang Böhmer will dem aber nicht mit Einführung einer Wahlpflicht begegnen, wie es sie praktisch in der DDR gab. Nicht einmal dort sei Nichtwählen bestraft worden, während heute eine Wahlpflicht unter Strafandrohung durchgesetzt werden müsste.
Wolfgang Renzsch, Politikwissenschaftler an der Uni der Landeshauptstadt Magdeburg, forderte hingegen dazu auf, die niedrige Wahlbeteiligung nicht zu dramatisieren. „Wenn die Leute sonst nichts gegen ihren Ärger unternehmen – gemeckert wird immer“, sagte er der taz unter Anspielung auf eine spürbar apolitische und frustrierte Stimmung in Sachsen-Anhalt.
Trotz verbesserter wirtschaftlicher Verhältnisse in dem strukturschwachen Bundesland zeigen Umfragen eine immer stärker wachsende Distanz zu Politikern. Verstärkt wird diese noch durch die geplante zehnprozentige Diätenerhöhung im Landtag. Auch die mangelnde Identifikation der Bürger mit den neuen Großkreisen trägt zum Misstrauen gegenüber politischen Entscheidungen bei.
Renzsch hatte nach dem ersten Wahlgang die niedrige Beteiligung als „passive Akzeptanz“ und Ausdruck von Zufriedenheit gewertet. Persönlich ginge es den meisten besser, als die Gesamtlage eingeschätzt wird. Der Politikwissenschaftler erteilte dem gestern wiederholten Vorschlag von Innenminister Holger Hövelmann (SPD) eine Absage, Wahlen zusammenzulegen: „Dann fällt es dem Wähler noch schwerer, zwischen den Wahlen zu differenzieren und zu erkennen, für welche Volksvertretung er eigentlich abstimmt!“ Das könne zu noch mehr Desinteresse führen.
Trotz der geringen Wahlbeteiligung sind auch in Sachsen-Anhalt Bürgerlisten und freie Wählergemeinschaften im Aufwind. Sie errangen mehr als zehn Prozent der Kreistagsmandate und verunsichern damit die etablierten Parteien zusätzlich.