: Zwischen Kontrolle und Freiheit
VOM WASSER Nach dem Ungreifbaren greifen: Ein Probenbesuch bei der Performerin Lisa Seidel-Kukuk, die im Ballhaus Ost an einer Collage über das Wasser arbeitet. Mit diesem Stück machte sie in Bern ihren Master
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Kurz vor dem Ballhaus Ost bricht das Gewitter los. Ich will eine Probe besuchen von Lisa Seidel-Kukuk, die im Ballhaus ihr erstes Stück, eine Hommage an das Wasser, vorstellt. Das nasse Straßenpflaster, der Staub von den Baustellen, die Blätter der Bäume, alles bekommt mit dem plötzlichen Regen einen eigenen Geruch. Das rieche ich, draußen auf der Straße unterwegs, und dann ist das plötzlich ein Satz aus dem Stück „Sensibles Chaos“ von Lisa Seidel-Kukuk.
Es sind die Beobachtungen der kleinen Dinge und Bildausschnitte vom Rande des Bewusstseins, aus denen die junge Performerin ihr Stück baut. Da gibt es Wassertropfen, die eine Scheibe runterlaufen; das Licht auf dem gläsernen Viereck lenkt alle Blicke im Bühnenraum dorthin, die Performerin, die den Regen aus einer Flasche sprüht, verschwindet dabei fast. Andere Tropfen werden hörbar, verlöschen zischend auf einer Herdplatte, von einem Mikrofon verstärkt. Wasser spritzt als Fontäne aus einer Plastiktüte – die Szene dauert, solange Wasser in der Tüte ist.
Sichtbare Musik
„Sensibles Chaos“ ist nicht nur ein Stück, sondern war auch Teil einer Abschlussarbeit, mit der Lisa Seidel-Kukuk an der Hochschule der Künste Bern ihren Master gemacht hat, im neu gegründeten Studiengang Scenic Art Practice. Dass zum Beispiel der Musiker Christoph Illing zum sichtbaren Teil der Bühnenarbeit gehört und die Klangerzeugung mit zum Bild wird, das ist auch Ergebnis eines Studiums, das den Austausch zwischen den Künstlern förderte. Er hat etwas sehr Einladendes, dieser Blick in den offenen Werkzeugkasten: wie Illing die Tropfen auf die Herdplatte lenkt, bis sie zu Dampfwolken werden, oder auf einem Plattenspieler alte, leicht beschädigte Klassikaufnahmen von Schubert oder Offenbach auflegt. Das ist unaufdringlich einerseits und andererseits doch voller Angebote an die Interpretationslust.
Das Studium in Bern war für Lisa Seidel-Kukuk, die zuvor in Stuttgart vier Jahre lang Figurentheater gelernt hatte, eine Weiterbildung, auch in Sachen Produktion und Marketing. Sie suchte sich Nicola Hümpel von der Berliner Gruppe Nico and the Navigators als Mentorin, und mit deren Unterstützung kommt ihr Stück jetzt ans Ballhaus Ost. „Alle Mitwirkenden sind auch Autoren des Stücks“, sagt Lisa Seidel-Kukuk, aber weil sie selbst performt und Regie führt, half ihr der Blick durch ihre Mentorin sehr.
Wie kommt man dazu, eine „Hommage an das Wasser“ als Thema zu wählen, wo doch das Wasser immer nur in kleinen Portionen in einem Bühnenbild anwesend sein kann, in Bassins oder Projektionen, aber nie mit jener elementaren Gewalt, die doch gerade seine Faszination ausmacht? Schon im Figurentheater ging es um die Auseinandersetzung mit Material, sagt Lisa Seidel-Kukuk, und das Wasser als Material hat sie gerade wegen seiner Ungreifbarkeit auf der einen Seite und der vielen Referenzfelder auf der anderen gereizt. Sie hat über seine Physik gelesen, über seine Verschmutzung im Golf von Mexiko nachgedacht, aber auch über die Romantisierung von Wasser als Element.
Vom Tauchen besessen
Das Ballett Schwanensee, jüngst durch den Film „Black Swan“ wieder zu Ruhm gekommen, ist so ein Stoff, der die Angst vor der zerstörerischen Kraft der Natur in ästhetisierenden Bildern domestiziert. Der Schwan und das Wasser, die Natur und die Frau gehen dabei Verbindungen ein, die Unheimliches erzeugen. Das nimmt Lisa Seidel-Kukuk in einer Szene ebenso liebevoll wie grotesk auf. Sie tanzt ein zierliches Schwänchen, das sich mit wachsender Begeisterung in ein Bassin auf der Bühne stürzt, kopfüber, flügelschlagend. Sie ist dabei zugleich die fantastische Kunstfigur, aber auch die Tänzerin, die unter Wasser keine Luft mehr bekommt und für die der Traum von Verwandlung und Verschmelzung bedrohliche Formen annimmt.
Wo kann ich loslassen, wo braucht die Form Kontrolle und Führung, das musste sich Lisa Seidel-Kukuk nicht allein im Hinblick auf das Wasser fragen, sondern in der Entwicklung der Szenen aus der Improvisation und dem Spiel mit dem Material auch im Hinblick auf die Struktur ihrer Collage. Das ist bis zum Ende eine Feinarbeit, in der jede Lichtsetzung genauso wichtig ist wie ein Satz oder ein Gedicht von Goethe. Und am Licht wird jetzt gefeilt werden, nach unserem Gespräch und vor dem ersten Durchlauf, zu dem sie ihre Mentorin erwartet.
■ „Sensibles Chaos“, 3./4./5. Juni, Ballhaus Ost, 20 Uhr