: Prima Pippo
Die altersweise Mannschaft des AC Mailand gewinnt verdientermaßen das Champions-League-Finale mit 2:1 gegen den FC Liverpool und revanchiert sich damit für die Finalniederlage aus dem Jahr 2005
AUS ATHEN RAPHAEL HONIGSTEIN
Dem älteren Herrn war es am Ende alles ein bisschen zu viel und vor allem zu laut. Er schlich sich mit dem Mobiltelefon am Ohr aus dem Olympiastadion und von der Milan-Kabine weg, aus der dumpfe Fußballgesänge und Blitzlichter nach draußen drangen. Immer weiter an der Stadionmauer entlang spazierte der Mann, bis er nach ein paar Minuten an diversen Büros der Einsatzleitung vorbeikam. Ordner und Beamte schauten verwundert durch die großen Fenster hinaus: Filippo „Pippo“ Inzaghi stand da vor ihnen, oben im Spielertrikot, unten nur noch in Boxershorts. Nachdem Milans zweifacher Torschütze das Gespräch beendet hatte – es wird wohl mit der Mama gewesen sein – schlenderte der 33-Jährige wieder zurück, hartnäckig verfolgt von einem griechischen Polizisten, der ein Autogramm haben wollte. Nahezu unbemerkt von 300 Medienschaffenden, wie ein Schatten, huschte er zu den Feierlichkeiten in den Stadiontrakt zurück. Der Stürmer ist eben der Großmeister der halblegalen Schleichwege. „Inzaghi kam schon im Abseits zu Welt“, hat Manchester Uniteds Trainer Alex Ferguson einst vermutet, was in Wahrheit ein großes Kompliment war.
Inzaghi, Held der Champions League 2007. Damit war wirklich nicht zu rechnen. Geplagt von zahlreichen Verletzungen hat er die vergangen zwei Spielzeiten nur als Ergänzungsspieler erlebt. Der Mailänder Trainer Carlo Ancelotti hatte vor der Partie eigentlich zum beweglicheren Alberto Gilardino tendiert, doch dem flatterten angeblich die Nerven. So musste der notorische Pippo ran, ein Auslaufmodell, in vielerlei Hinsicht, fürs moderne Kollektivspiel nur noch begrenzt verwendbar: er rennt, großzügig geschätzt, nur noch 500 Meter in 90 Minuten, und zwar in 50 Zehnmetersprints. Kurz vor Ende der ersten Hälfte war er so in einen Freistoß von Andrea Pirlo gelaufen. Von der Schulter prallte der Ball unerreichbar in Pepe Reinas Tor, und der alte Pippo war hinterher so unverschämt, den Zufall als einstudierte „Trainingsvariante“ zu verkaufen. „Mein zweites war schöner“, fügte er an; es war ja noch inzaghischer: Steilpass, Sprint aus abseitsverdächtiger Position, sachlicher Abschluss.
Ungeheuern der Nacht, so heißt es, kann man mit silbernen Kugeln beikommen. Und so war es in Athen: Inzaghis zwei Treffer mit dem metallfarbenen Spielgerät besiegten die gruseligen Gedanken an Istanbul vor zwei Jahren, das verlorene Endspiel nach der 3:0-Führung. Dann aber erinnerte sich das Spiel an eine Grundregel des Horror-Genres: Das Grauen kommt kurz vor Schluss immer zurück, ein letztes Mal. Dirk Kuyts Anschlusstreffer in 89. Minute ließ die Rossoneri noch kurz bangen. Schiedsrichter Herbert Fandel sorgte für ein Happy End, weil er mit typischer Geschäftigkeit 16 Sekunden zu früh abpfiff. „Wir hatten Rückenwind, aber keine Zeit mehr“, sagte Rafael Benítez später leicht angesäuert. „Mein Herz ist in zwei Stücke gebrochen“, klagte Kapitän Steven Gerrard, „das ist der Tiefpunkt meiner Karriere.“
Weh tat die Niederlage, weil die Reds die spielstarken Italiener lange Zeit sehr klein gehalten hatten. Rafael Benítez’ Konzept, Druck auf Spielmacher Andrea Pirlo auszuüben, und Milans Mittelfeld über die Flügel zum umgehen, ging vorzüglich auf. Was fehlte, war allein die Fähigkeit, einen funktionierenden Plan auch in Zählbares umzuwandeln.
Benítez wartete nach der Partie mit einer Maßeinheit auf, der man im Fußball bisher noch nicht begegnet war. Nach „zwei Minuten, 43 Sekunden und 51 Hundertsteln“ anstatt den angekündigten drei Minuten war der Abpfiff erfolgt, beschwerte sich der überzeugte Technokrat auf der Trainerbank, wie so oft auf der Suche nach der Erfolgsformel. Trotzdem sah er ein, dass Inzaghis Kunst, Inzaghi zu sein, sein System besiegt hatte. „Er war isoliert und alleine, hatte aber die Qualität, das Spiel zu entscheiden“, sagte der Spanier.
Die Erkenntnis ist nicht neu, doch das an Höhepunkten arme Match in Athen malte es noch einmal in großen Buchstaben an den Abendhimmel: Je ausgefeilter die Konzepte werden, desto größer ist der Bedarf an Spielern, die diese überwinden. Inzaghi überwand am Mittwoch Gegner, taktische Zwänge und das mit kleingeistiger Strenge angewandte Regelwerk und holte so Milans siebten Europapokal. Ein 33-Jähriger gegen die Maschine: eine äußerst romantische und im speziellen Fall von Pippo, dem zynischsten Spieler aller Zeiten, ziemlich absurde Vorstellung. Aber auch nicht absurder als ein Millionär, der in der Stunde des größten Triumphs in der Unterhose durch die Gegend spaziert.