Liebenswertes Ungeheuer

AVANTGARDE-MUSIK Am Wochenende findet im kleinen Ort Schiphorst zwischen Hamburg und Lübeck zum achten Mal das „Avantgarde Festival“ statt: Europas größter Live-Event für experimentelle Musik

Spontanes Mitmachen ist auch dieses Jahr wieder ausdrücklich erwünscht

VON ROBERT MATTHIES

Zu ihren Monstern pflegt die Menschheit seit eh und je ein ebenso inniges wie zwiespältiges Verhältnis. Drohend mahnt ihr ungestaltes Wesen, allzeit das richtige Maß einzuhalten, und warnt vor den Gefahren und Folgen der Abweichung vom rechten Weg. Zugleich steht die Zugehörigkeit der Ungeheuer zur Gattung schon für die Kirchenväter nicht zur Debatte. Monster, beschließt selbst Augustinus, sind als von Gott gesetztes Mahnzeichen Teil des Menschengeschlechts. Und spätestens seit der Sesamstraße ist klar, dass darunter sogar fürchterlich liebenswerte Geschöpfe zu finden sind, mit denen man ganz gut zurechtkommen kann – wenn man auf ihre Bedürfnisse eingeht und auf ihre Eigenheiten achtet.

In seiner maßlosen Lebendigkeit bei aller Liebenswürdigkeit ein wenig herrisch ist zum Beispiel jenes Exemplar, das nun schon seit 15 Jahren gemeinsam mit Jean-Hervé Peron von den Krautrockern Faust und seiner Partnerin Carina Varain auf einem ehemaligen Gasthof im kleinen Dorf Schiphorst zwischen Hamburg und Lübeck lebt. Gerade mal ein, zwei Monate im Jahr sitzt es im Spätsommer ruhig im Nacken seiner Mitbewohner, bevor ihr „Avantgarde Festival“ sie auf ein Neues herausfordert: „Wir sind nur seine armseligen Ausführer“, ist sich Peron sicher.

Dabei wurde es einst in den Köpfen der beiden gezeugt, als Traum von einem Festival, das Menschen ausschließlich aus Freude an unkonventioneller Musik und Kunst zusammenbringt und im Gegenzug nicht mehr von ihnen verlangt als das Beste, was jeder zu geben hat: „sich selbst“. Kein Backstagegelände, kein VIP-Bereich und keine unverschämten Ticketpreise sollten das unkommerzielle und direkte Miteinander von Künstlern und Publikum stören und im Sommer 1996, als gerade genug im Kulissenbau verdientes Geld vorhanden war, erblickte der Spross schließlich das Licht der Welt: Peron und Varain luden Freunde auf ihren Hof, um all jener Musik einen Raum zu geben, die war „wie die Leute, die sie machten: lebendig, aufregend, neu – Avantgarde“.

Seitdem haben die Monster-Eltern ein halbes Jahr über schlaflose Nächte, nicht zuletzt, weil das Untergrund-Festival lange ganz ohne Subventionen auskommen musste: bis zu 12.000 Euro Miese machten beide zu Beginn jedes Jahres, trotz Mini-Gagen für die Künstler. Flugtickets für japanische Bands sind da auch heute nicht immer drin. Aber die Maßlosigkeit des „Internationalen Festivals für experimentelle Musik“ treibt nun mal beständig über alle Grenzen hinweg, aus dem Fest für Freunde ist längst Europas größter und bedeutendster Avantgarde-Live-Event geworden – und ein wenig Zuschuss gibt es mittlerweile für das so hervorragend beleumundete Festival auch.

Das bleibt seiner ursprünglichen Bestimmung dabei treu: jedes Jahr wieder so neu, lebendig und aufregend aus dem Schlaf zu erwachen wie all die heterogenen Teile, aus denen sich sein hybrider Festival-Körper dann zusammensetzt. Über 40 Bands mit rund 120 Künstlern aus aller Welt treffen sich dieses Wochenende in der 500-Seelen-Gemeinde und zum ersten Mal überschreitet das Festival nun auch die Grenzen des Peron-Varain’schen Hofs: Zu den beiden Hauptbühnen in der Lohdiele und auf dem Heuboden ist eine dritte gestoßen, am Dorfteich bietet diesmal außerdem die Scheune eines aufgeschlossenen Landwirtes ein Dach für Konzerte und Performances. Für Sonntag beispielsweise hofft Peron auf die Unterstützung von Trommelmischer-Besitzern, die ihr Gerät mal für etwas anderes benutzen wollen, als Zement, Sand und Wasser zu mischen. Gespielt werden soll ein Stück, das der Komponist Ivan Bellocq für Perons eigenen Betonmischer und ein Sinfonieorchester geschrieben hat – nur dass Peron das Verhältnis diesmal umkehren möchte: mit ein wenig Glück trifft dann ein 46-köpfiges Betonmischerorchester auf einen Solisten.

Zu hören sein wird Peron natürlich auch mit der Hausband des Festivals Faust, die gerade in der Besetzung mit den Gründungsmitgliedern Peron und Werner „Zappi“ Diermeier sowie den dazugestoßenen Geraldine Swaye und James Johnstone mit „Something Dirty“ wieder ein Album veröffentlicht hat. Und auch internationale Gäste wie die kompromisslosen walisischen Post-Punk-Rocker Klaus Kinski und das französische Objekt-Verwender- und Experimental-Krach-Trio Toys’R’Noise sind wieder vertreten. Anders als in den Jahren zuvor aber haben Peron und Varain diesmal einen Schwerpunkt auf regionale Künstler gelegt. Aus Norddeutschland kommen unter anderem das beeindruckend kostümierte Hamburger Spoken-Word- und Dark-Electronic-Projekt ::OT:: – Oberer Totpunkt – und die Schlager-Avantgarde-Kombinierer derschlaeger.

Und auch spontanes Mitmachen ist wieder ausdrücklich erwünscht: Im „Workfloor“ bekommen „Arbeiter“ wie Maler, Schweißer, Radio-Crews, Drucker oder Instrumentenbauer die Möglichkeit, ihre Arbeit während des dreitätigen Festivals live zu präsentieren. Wie gearbeitet und ausgestellt wird, bleibt ihnen dabei vollständig selbst überlassen. Ebenfalls vollkommen unabhängig ist die „Annexe“: ein großer Raum mit einer kleinen Bühne, der unter anderem für Filmpräsentationen und eine kultursoziologische Debatte über Avantgarde-Kunst genutzt werden wird. Hier können außerdem KünstlerInnen selbst entscheiden, was wann mit wem aufgeführt wird, ohne sich dafür anmelden zu müssen. Erst dann nämlich beginnt das Herz des Monsters tatsächlich zu schlagen: als liebenswertes kollektives Ungeheuer.

■ Schiphorst: Fr, 24. 6. bis So, 26. 6., auf dem Hof von Peron und Varain, Steinhorsterweg 2; Infos und Programm: www.avantgardefestival.de