: Märchen mal anders
„Fairytale“ nennen Ai Weiwei die Mega-Performance, die 1.001 Chinesen zur documenta nach Kassel schickt. Welche Bilder von Deutschland haben Chinesen im Kopf, die China noch nie verlassen haben?
VON ULRIKE MÜNTER
„Das prägendste Märchen in meinem Lebens war der Mythos vom Kommunismus. Als Zehnjähriger musste ich das kommunistische Manifest auswendig lernen“, beantwortet der Künstler, Kurator, Kunstkritiker und Architekt Ai Weiwei die Frage nach der Intention des Titels für sein kühnes Projekt, nicht weniger als 1.001 Chinesen unterschiedlichen Alters und Berufs aus allen Provinzen des Landes in fünf Schüben zum Kunst-Event documenta 12 nach Kassel zu bringen. Ein ehemaliges VW-Werk dient als Bleibe für den rund zehntägigen Aufenthalt jeder Gruppe. Betten und Köche werden gleich aus China mitgebracht, um den kultureigenen Empfindlichkeiten entgegenzukommen. Ein spezielles Survival-Paket soll den zumeist keine Fremdsprache beherrschenden Kunst-Immigranten bei den vorhersehbaren Irrungen und Wirrungen helfen. Was die Performance, die Ai Weiwei kurz als „sozio-politisches Readymade“ bezeichnet, im Einzelnen beinhaltet, bleibt weiterhin Überraschung.
Eines steht allerdings fest, „Fairytale“ soll nicht märchenhaft werden. „Mich interessiert die Kategorie des Märchens in erster Linie als Dachbegriff für die Trennung zwischen dem Bösen und dem Guten, dem Verhältnis von Wahrheit und Fantasie. Diese Dualismen gibt es ebenso im Verhältnis zwischen China und dem Westen. Der Titel nimmt aber auch konkret Bezug auf den Ort Kassel. Immerhin haben dort die Gebrüder Grimm gelebt“, so Ai Weiwei. Sein Team feilte an dieser Leitidee. Die Festlegung der Teilnehmerzahl auf exakt 1.001 ist einem Mitarbeiter geschuldet: „Im Zentrum von ‚Fairytale‘ steht das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen. In dem Moment, wo wir das Ganze ‚Märchen‘ nennen und die Zahl 1.001 ins Spiel bringen, haben wir schon zwei Kulturen angesprochen. Immerhin kommt ja die Erzählung „Tausendundeine Nacht“ aus dem arabischen Raum. Dazu kommt: Diese Form der Erzählung gibt es in China gar nicht. In China erzählt man den Kindern Fabeln und Mythen, Märchen sind ganz klar Westimport.“
Ai Weiwei ist eine der wichtigsten Figuren der chinesischen Kunstszene. Mit Ausstellungen wie der im Jahr 2000 in Schanghai gezeigten Schau „Fuck off“ markiert er den Stand der Off-Kunstszene, bündelt Energien und unterstützt Kunstprojekte von noch unbekannten Künstlern. Sein internationales Renommee setzt Ai Weiwei gezielt ein, um die Grenzen des Machbaren in China zu erweitern. Als Sohn des bekannten und während der Kulturrevolution in Ungnade gefallenen Dichters Ai Qing, prägte der kritisch-distanzierte Blick auf die politische und gesellschaftliche Situation Chinas bereits seine Kindheit. Ein zwölfjähriger New-York-Aufenthalt schärfte diese Optik zudem. 1993 nach Peking zurückgekehrt, gründete er zusammen mit dem Belgier Hans van Dijk die „China Art Archives and Warehouses“, deren Hauptziel die Dokumentation und Archivierung von Werken der chinesischen Gegenwartskunst ist. Zurzeit arbeitet er mit den Architekten Herzog und de Meuron am Bau des Pekinger Olympiastadions zusammen.
Spricht man Ai Weiwei auf die Reaktion der Presse seit den ersten Gerüchten über das Projekt im Dezember an, so wirkt er fast gelangweilt. Der Spektakel-Ton und die Banalisierung der Aktion in einigen Artikeln interessieren ihn nicht. „Wenn sich fremde Kulturen begegnen, egal welcher Nationalität, besteht immer die Gefahr des Missverständnisses. Wir können diese Gefahren ignorieren oder sichtbar machen. In Kassel werden wir diese Prozesse beobachten können. Und egal, was Journalisten oder andere Leute dazu sagen werden, ich bin in erster Linie gespannt auf die Reaktionen der chinesischen Teilnehmer. Wie wird diese Erfahrung ihr Lebensgefühl verändern? Ein Team von Dokumentarfilmern ist engagiert, die Teilnehmer in Kassel, aber auch nach ihrer Rückkehr nach China zu begleiten. Mit der Aktion ist es wie mit einem Stein, den man ins Wasser wirft, da ist man auch gespannt, was passiert, ob er untergeht oder vielleicht zu fliegen beginnt.“
Im Internet ausgeschrieben, fanden sich innerhalb weniger Tage mehr als genug Interessierte. Das Team hatte bei der Auswahl das Ziel, einen möglichst repräsentativen Querschnitt durch die chinesische Bevölkerung zu erreichen. Vom Bauern aus der südchinesischen Provinz Yunnan bis zum Pekinger Professor. „Die Chinesen,“ so Ai Weiwei „wollen seit Ende der Qing-Dynastie [1644–1911, Anm. d. Red.] wissen, wie das Leben jenseits von China aussieht. Auch ich wollte unbedingt ins Ausland. In diesem Sinne ist die documenta-Aktion eine sehr einfache Sache: Menschen gehen von einem Ort zum anderen und kommen verändert zurück.“ Im Gespräch mit zwei Teilnehmern der Performance zeigt sich, mit welchem Vertrauensvorschuss an Ai Weiwei sich auch Leute auf dieses Experiment einlassen, die noch nie außerhalb Chinas gewesen sind. So sieht die 22-jährige Fernsehjournalistin Wang Ye in der Aktion die Chance einmal einen anderen Teil der Welt zu sehen. Sorgen macht ihr weniger das fremde Land als das enge Zusammenleben mit den eigenen Landsleuten. Von Deutschland hat sie keine konkrete Vorstellung, denkt an deutsches Bier und die Kopfhörermarke Sennheiser, aber auch an Wagner-Opern und die „Blechtrommel“ von Günter Grass. „Auf einer DVD habe ich das Pink-Floyd-Konzert an der ehemaligen Berliner Mauer gesehen.“ Sie singt den Refrain von „Another Brick in the Wall“. „Dieser Song hat für uns Chinesen sicherlich eine noch größere Bedeutung als für die Deutschen. Es geht ja auch um die Mauern in den Köpfen.“
Auch der durch seine waghalsigen Selbstversuche bekannte Pekinger Performance-Künstler He Yunchang (geb. 1967) verlässt sich ganz auf die Organisation von Ai Weiwei. „Ai Weiwei hat uns versprochen, dass für alles gesorgt ist. Er wird uns auch nicht einschränken, wenn wir uns allein bewegen wollen. Sicherlich ist es aber einfacher in kleinen Gruppen unterwegs zu sein, vielleicht mit jemandem zusammen, der ein bisschen Englisch kann …“
Auf sein Bild von Kassel angesprochen antwortet He Yunchang: „Kassel ist für mich quasi perfekt, weil dort die documenta stattfindet. Und dann habe ich auch gehört, dass Kassel eine Stadt mit einer langen Tradition ist. Ich stelle sie mir ein bisschen vor wie meine Heimat Yunnan. In Europa ist die Umwelt ja nicht so zerstört wie hier in den chinesischen Großstädten.“ Wenn er seine Beweggründe, an der Aktion teilzunehmen, formuliert, klingt seine Stimme fast feierlich: „Wir kommen als Botschafter des heutigen China.“ Nach einer kurzen Pause ergänzt er: „Am meisten interessiert mich aber natürlich die Unberechenbarkeit der ganzen Aktion.“