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Archiv-Artikel

„Unter den Anlegern kann jeden Tag Panik ausbrechen“

BÖRSE Der Fall des Ölpreises hänge mit der Kasinomentalität von Spekulanten zusammen, sagt Ökonom Flassbeck

Heiner Flassbeck

■ 63, war Chefökonom der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung (Unctad), bis er aus Altersgründen ausschied. Jetzt betreibt er den Blog flassbeck-economics.de.

taz: Herr Flassbeck, der Ölpreis fällt. Seit Juli ist er von 115 auf etwa 80 Dollar pro Barrel gesunken. Kommt die nächste Wirtschaftskrise?

Heiner Flassbeck: Es handelt sich zunächst um eine weitere Finanzkrise. Einige der Spekulationsblasen platzen, die in den letzten Jahren entstanden sind.

Sie klingen erstaunlich gelassen.

Weil es vor allem um die üblichen Kasinospiele an den Börsen geht. Bei den Rohstoffen und Aktien haben wir verrückte Kurssteigerungen gehabt – die werden jetzt korrigiert. Gleichwohl kann unter den Anlegern jeden Tag eine Panik ausbrechen.

Und das wäre nicht gefährlich?

Doch, aber eine große Finanzkrise wie 2008 ist nicht zu befürchten. Denn die Spekulationsgeschäfte sind nicht so umfangreich. Zudem gibt es momentan keine große Immobilienblasen wie damals etwa in den USA.

Wenn es zum Crash an den Börsen kommt, hat die Realwirtschaft nichts zu befürchten?

Nicht in großem Ausmaß. Diesmal verlieren vor allem die Spekulanten.

Trotzdem ist es merkwürdig: Wie kann denn der Ölpreis fallen – wenn gleichzeitig die Weltwirtschaft wächst und damit die Nachfrage nach Energie steigt?

„Finanzmärkte“ sind keine Märkte, die von normalem Angebots- und Nachfrageverhalten gesteuert werden. Der Ölmarkt ist „finanzialisiert“. Die Ölpreise haben derzeit mit den Ölmengen nichts zu tun. Es handelt sich um den Herdentrieb von Spekulanten. Auf den Finanzmärkten sind nur Investoren unterwegs, die gar keine Ahnung von der konkreten Ölproduktion haben. Man kauft Derivate in der Erwartung, dass die Ölpreise weiter steigen. Wenn das viele Investoren mit viel Geld tun, dann steigen die Preise automatisch. Die Prophezeiung erfüllt sich selbst.

Wenn das Spiel so schön ist: Warum steigen die Ölpreise jetzt nicht mehr?

Irgendwann bemerken die ersten Investoren, dass ein Ölpreis von 150 Dollar pro Barrel unrealistisch ist, weil die Lager voll sind und die Produktion bestens läuft. Sobald aber die ersten Spekulanten aussteigen, fängt der Ölpreis an zu sinken – dann steigen immer mehr Investoren aus.

Wie stark wird der Ölpreis noch fallen?

Das kann niemand sagen. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass der Preis auf 50 Dollar pro Barrel sinkt. INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN