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Archiv-Artikel

Die Liebe der Schamanen

In der Reihe „Maple Movies 2007“ zeigt das Arsenal kanadische Produktionen. Darunter Zacharias Kunuks großen Film „The Journals of Knud Rasmussen“

Im Kino sind die Gespenster unmöglicher Gleichzeitigkeiten zu sehen, wiederkehrende Seelen und der Segen guter Geister

Eine unerhörte Szene. Eine Frau, allein, umgeben von milchigem Weiß, das diffus von den Wänden ihres Iglus abstrahlt. Sie wiegt sich, sie stöhnt und steigert sich in eine Ekstase, die mit simpler Masturbation nichts mehr zu tun hat. Zu sehen ist die Schamanentochter Apak beim spirituellen Sex mit ihrem verstorbenen Mann in „The Journals of Knud Rasmussen“. Der Film, der mit dieser Sequenz eine der aufregendsten Sexszenen der Kinogeschichte beinhaltet, lässt uns darüber rätseln, ob es sich um einen halluzinierten oder einen tatsächlichen Liebesakt zwischen zwei Menschen handelt, von denen der eine fast nicht zu sehen ist.

Als der Bildhauer und Filmemacher Zacharias Kunuk vor 26 Jahren drei Skulpturen verkaufte, sich eine Kamera zulegte und sein eigenes Volk, die Inuit aus Nunavit, Kanadas nördlichster Region, als Ensemble vor seiner Linse versammelte, ging es ihm darum, das Unsichtbare zu zeigen. Er wollte den Schamanismus bebildern. Welch treffendere Formel könnte es für das Kino geben, das seinen Zauber bis heute aus Geschöpfen bezieht, die aus Licht und Schatten bestehen. Aus Wesen, die in Wahrheit vielleicht schon längst nicht mehr sind, oder aus digitalen Menschenmengen, die es so nie gegeben hat. Im Kino sind die Gespenster unmöglicher Gleichzeitigkeiten zu sehen, wiederkehrende Seelen und der Segen guter Geister. All das gibt es auch in den Filmen des Zacharias Kunuk, der seine Kindheit in der arktischen Tundra verbrachte, bevor seine Familie in dem Örtchen I’gloolik in Nunavit sesshaft wurde. In „The Journals of Knud Rasmussen“ formt sich das Unsichtbare zu spirituellen Tumulten, die den Charakteren in inneren Konflikten, aber auch durch Racheakte von Mensch und Natur zusetzen.

Pakak Innukshuk spielt als Apaks Vater Avva einen alten Schamanen, seinen eigenen Vorfahren. In einem ungeheuerlichen Erzählstrom schnürt er die wechselvolle Geschichte seiner Sippe zu einem Bündel aus Tabubrüchen, Opfergängen, Jagdpech, Schneestürmen und guten Geistern, die in Gestalt eines Haifisches Avvas Zaubertalent auf den richtigen Weg bringen. Doch mit der Christianisierung sollten die guten Geister böse werden. Schöpfungsgeschichte und Sündenfall erschüttern nun ein Volk, das sich 4.000 Jahre lang bestens in schmamanistischer Weltgewissheit aufgehoben wusste. Hier stehen Avva und seine spirituell hochbegabte Tochter halb verhungert vor dem Nachbarstamm und dürfen nicht vom Robbenfleisch kosten, wenn sie nicht am Gottesdienst teilnehmen.

Wie in „Atanarjuat“ (Goldene Palme 2001) oder auch in „Nunavit“, Kunuks 13-teiliger TV-Serie, die das heute im Arsenal beginnende Festival kanadischer Filme, „Maple Movies 2007“, wunderbarerweise auch im Programm hat, wirft uns der Regisseur auch hier ohne Vorbereitung in eine fremde, vergangene Welt. Mitten hinein in die Inuktikut-Sprache, die alltägliche Jagd, in Familienstreite und rituelle Gesänge. Mitten hinein in Bilder aus Eis und Dämmerung. Und er legt größten Wert darauf, dass seine Filme bei aller dokumentarischer Geduld und Genauigkeit, mit der sie zeigen, wie ein Schlitten geflickt, die Hunde geführt oder eine Walrosstranlampe befeuert wird, keine ethnologischen Dokumentationen sind, sondern Dramen erzählen. Kunuks Kino, in dem Videokamera und Betacam die mündliche Erzählung ablösen, will die großen Geschichten von Leben und Sterben, Liebe und Rache erzählen. Und es sucht den Mythos als Medium, mit dem die Inuit ihr Verhältnis zur Natur denken.

Kunuk, der Bildhauer, schält die Körper seiner Protagonisten förmlich aus dem Eis, aus dem Weiß der Leinwand. Immer wieder sieht man in seinen Filmen Helden, die Läuterung in der Natur suchen oder Schutz in der Erde selbst finden. Unvergessen auch Atanarjuats nackter Überlebenslauf über eine schmelzende Eisdecke. Oder die Anstrengungen, mit denen sich die Inuit in einer „Nunavit“-Folge ein durchsichtiges Iglu bauen. Das sind Bilder von einer Kraft und fremden Schönheit und Fabulierlust, von der das übrige Kino keinen Schimmer hat. BIRGIT GLOMBITZA

Programm unter www.fdk-berlin.de