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Archiv-Artikel

Sommer Leichte Kinder Geschichten

Ferienzeit. Schulen und Kindergärten schließen, viele Büros machen ihre Schotten dicht. Langsam fließt der Strom der Urlauber an die Küsten, in die Berge, auf weite Wiesen in Nord und Süd. Zeit zum Rumtollen, Zeit für Muße, Zeit zum Schmökern. Im taz-Spezial hat unsere Kolumnistin Sarah Wildeisen die schönsten Lesehits für Kinder zusammengestellt. Bücher zum Versinken für die sonnigen Stunden an Strand, Wald, See oder im Gebirge. Wildeisens Urteil ist für alle gleich: Höchstwerte in jeder Disziplin

TAZ-KOLUMNISTIN SARAH WILDEISEN

Zwischen Pisa-Druck und Potter-Lust – Sarah Wildeisen weiß wie sehr Eltern auf der Suche nach dem richtigen Buch für ihre Kids verzweifeln können. Lange hat die Buchhändlerin in einer Kinder- und Jugendbuchabteilung gearbeitet. Ihren Chef brachte sie öfter zur Weißglut: Sie beriet Eltern gerne auch mal eine Stunde lang – für ein Buch im Wert von fünf Euro.Heute studiert Sarah Wildeisen Kunstgeschichte und Germanistik, Kinder- und Jugendliteratur. Die Unsicherheit der Eltern kennt sie jetzt aus eigener Erfahrung. Nicht immer gefällt ihr, was ihre Kinder, 3 und 5, lieben. Und manchmal ist der Grad zwischen Sinn für Spannung und Versinken in Trash schmal. Die Quadratur des Kreises schaffen, das ist ihr Ziel für das taz-Lesezeichen, das sie seit März schreibt: Die Bücher sollen die Kinder in einen Leserausch versetzen – und trotzdem die eigenen Erziehungsansprüchen erfüllen.

Eine Kutsche zum Strand

Für Kinder ab 3

In Brigitte Lucianis Bilderbuch packt Roxane ihre Sachen, um ans Meer zu fahren, aber nicht alle haben Platz: Wer fährt mit?

Story: Roxane möchte ans Meer fahren. Ihre Schildkröte, der Sonnenschirm, ein dickes Geschichtenbuch, der Ball und ihr Baby sollen mit. Das Auto ist kaputt, deshalb wartet sie auf den Bus. Keine Schildkröten im Bus, sagt der Busfahrer. Roxane sattelt aufs Fahrrad um, kriegt aber den Ball nicht unter. Sie versucht es mit Skateboard, Kajak und Heißluftballon. Immer muss einer zurückbleiben. Da kommt ein Kirschhändler mit Kutsche vorbei und bringt alle zum Strand.

Leserausch: Eve Tharlet hat das Buch mit luftigen Sommerfarben bebildert. Roxane ist eine bezaubernde Mutter, die zwar mal ratlos, mal empört guckt, aber ihre Heiterkeit nicht verliert. Wie sie ihre Sachen unterbringt, kann lustig aussehen: Mal hat sie sich die Schildkröte auf den Kopf gebunden, mal benutzt sie den Schirm als Paddel.

Weltwissen: Die Geschichte vermittelt spielerisch Wissen. Die fünf Sachen haben fünf unterschiedliche Farben: blaues Buch, grüne Schildkröte, gelber Sonnenschirm, orangefarbener Ball, rot gekleidetes Baby. Roxane wird mit Fortbewegungsmittel und den Sachen gezeigt. Da es sich um eine überschaubare Menge handelt, üben kleine Kinder die wechselnde Anordnung der Bildelemente erkennen und sehen, was fehlt. Dies schult das Erschließen von Bildzusammenhängen, das Lesen von Bildern – die beste Vorbereitung fürs Lesenlernen. Ein sonniges Reisebuch für die Kleinsten.

Brigitte Luciani, Eve Tharlet: „Wer fährt mit ans Meer?“ NordSüd, 9,80 €

Fahrrad fahrende Frösche

Für Kinder ab 4

Hier hat die Künstlerin das Wort: Sabine Wilharms dynamischer Zeichenstil katapultiert lebensfroh Frösche zum Strand!

Story: Vier Frösche, Lutz, Butz, Mats und Fratz, stöhnen über die sommerliche Schwüle. Die Idee, schwimmen zu gehen, bringt Leben in die Bude: Los! Sie packen und schwingen sich aufs Viersitzerfahrrad. Ein Spielplatz kommt in Sicht und alle Frösche jubeln los: Spielen! Beim Weiterfahren verirren sie sich. Heftig strampeln sie weiter, stürzten dabei Hals über Kopf in ein Rübenbeet: Picknick. Danach schlummern sie, so vier Stunden. Wieder wach, geht es mit voller Kraft voraus. Endlich erreichen sie das Ziel, aber … die Sonne ist weg, kein Mensch mehr da! Macht nichts, denn Frösche schwimmen auch gern im Mondenschein.

Leserausch: Die überschäumende Lebensenergie der Frösche weiß Wilharm derart auf die Spitze zu treiben, dass man kaum den Impuls zügeln kann, selbst loszuhüpfen. Der reduzierte Text in Dialogform von Patricia Lakin, der aus klangvollen Worten und Reimen besteht, passt bestens zu der expressiven Bildsprache der deutschen Harry-Potter-Illustratorin Wilharm.

Weltwissen: Durch das Integrieren von Wörtern in die Bilderebene – die orientierungslosen Frösche radeln die wirr zusammen geschobenen Buchstaben des Wortes VERIRRT auf und ab – gelingt eine lustvolle Vermischung von Schrift und Bild. Die Typografie wird der Dynamik der Handlung unterworfen. Mal rutscht das Wort „Rutschen“ die Rutsche hinunter, mal werden die Buchstaben des Wortes RÜBEN ebenso durch die Luft katapultiert wie die stürzenden Frösche. So wird die Aufmerksamkeit der Kinder auf die Buchstaben und Wörtern gelenkt. Ein vitales Kunstwerk zum Vorlesen und für Abc-Schützen!

Patricia Lakin, Sabine Wilharm: „Zum Strand!“ Carlsen Verlag, 13,90 €

Liebnurmich und Vergisswaswar

Für Kinder ab 8

Die Neuausgabe von Franz Fühmanns Sommernachtstraum-Nacherzählung, die Jacky Gleich mit mollig schrägen Typen bebildert hat, verzaubert diesen Sommer.

Story: Seit sieben Jahren befehdet sich das Elfenkönigspaar Oberon und Titania. Ihre Waffen sind die Kräfte der Natur: Sturzregen, Schneegestöber und Föhnwinde. Die Menschen spüren diesen Streit in Form einer Klimakatastrophe. Theseus, Herzog von Athen, und Hippolyta, Königin der Amazonen, halten Hochzeit, um das Elfenpaar bei der Feier zu versöhnen. Die Handlung wechselt zu vier unglücklich verliebten Athenern, Lysander, Hermia, Demeter und Helena. Bei den Hochzeitsfeierlichkeiten fliehen sie, getrieben von Herzschmerz, in den nächtlichen Wald. Die unglücklich Liebenden erregen das Mitgefühl von Elfenkönig Oberon. Er bittet seinen Lieblingself Puck, mit Hilfe der Blume „Liebnurmich“ die Liebesbeziehungen glücklicher zu fügen. Aber der Einfluss der Liebnurmich schafft nur mehr Chaos. Aber die Blume „Vergisswaswar“ kann ein harmonisches Verhältnis herstellen.

Leserausch: Das Bemerkenswerte an Fühmanns Shakespeare-Adaption ist der Erzähler: Er spricht direkt zum Leser und schafft Klarheit in der verwirrten Welt des Sommernachtstraumes. Jacky Gleich verleiht den Figuren einprägsame Gestalten, so dass sie durch Form und Farben deutlich zu unterscheiden sind. Um in das Geschehen einzuführen, wird jeder Schauplatz atmosphärisch beschrieben. Umgeben von samtweichen Mooskissen und duftenden Veilchen beobachten wir die Possen des liebenswerten Elfen Puck. Er selbst – klein, pummelig und Sonnenbrillenträger –, eine Posse, hervorgegangen aus Jacky Gleichs Buntstift.

Weltwissen: 1968 erschien Fühmanns Version des Sommernachtstraums das erste Mal. Während Fühmann nicht preisgibt, dass es sich um die Nacherzählung eines Theaterstücks handelt, setzt Jacky Gleich ihre skurrilen Figuren theatral in Szene. Mit den entgegengestreckten Popos der sich verbeugenden Schauspieler verabschiedet sie sich, indem sie uns aus der Perspektive schauen lässt, die uns Fühmann gewährte: auf der Bühne dabei gewesen zu sein. Ein Muss, egal wohin die Reise geht.

Franz Fühmann: „Ein Sommernachtstraum. Ein Märchen nach Shakespeare“. Illustriert von Jacky Gleich. Hinstorff Verlag 2007, 12,90 €

Verwandte sind Schicksal

Für Kinder ab 9

Inspiriert vom Hamlet-Konflikt zeichnet Susanne Lütje eine abenteuerliche Sommergeschichte.

Story: Hamlettas Name steckt voller Abenteuer, doch abenteuerlich war ihr Leben bis jetzt noch nicht. Das scheint sich diesen Sommer zu ändern. Da ihre Eltern für einen Forschungsauftrag nach Brasilien reisen, kommen Hamletta und ihre kleineren Geschwister Jakob und Lena zu Oma und Opa. Dort retten die Kinder einer alten Eselin, die zum Abdecker soll, das Leben. Was gut begann, scheint schnell beendet, Großtante Mechthild trifft ein. Mecker-Mechthild nörgelt an Jakob und Hamletta herum. Nur zur kleinen Lena ist sie liebvoll und Lena genießt das. Hochverrat, findet Hamletta. Als Tante Mechthild die Schnecken im Garten in Bier ertränkt, ist sie für Hamletta die Mörder-Mechthild. Prinz Hamlet sei ein verrückter Feigling gewesen, behauptet Tante Mechthild eines Abends. Hamletta ist entsetzt. Von Opa erfährt sie, dass Hamlet in Wirklichkeit ein tapferer Rächer war. Sie beschließt, gegen Mörder-Mechthild zu kämpfen. Mit ihren Geschwistern gründet sie die Bande der Wilden Schnecken, die Leben retten will. Doch dann wird Tante Mechthild krank und liegt im Sterben. Mit Hilfe von Oma gelingt es Hamletta, mit Tante Mechthild Frieden zu schließen und sich zu verabschieden.

Leserausch: Das Buch ist aus Hamlettas Perspektive geschrieben, so dass ihre inneren Konflikte nachvollziehbar werden. Hamlettas Nachdenklichkeit wird dadurch aufgelockert, dass sie, um Denken zu können, herumspringen muss. Komisches und Tragisches wechselt ab. Die witzigen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Marine Ludin unterstreichen die humorvolle Seite des Buches.

Weltwissen: Lütje zeigt, dass auch Kinder die Konflikte der erhabenen Hochkultur kennen. Zwar wird hier kein Vater ermordet, sondern Schnecken, zwar wird hier nur Verrat durch die kleine Schwester begangen, aber Hamletta empfindet das als tragischen Konflikt. Im Anhang wird „Hamlet“ kurz nacherzählt. So dass Kinder entdecken können, dass sich die Probleme der Menschen gleichen, egal in welchem Jahrhundert sie leben. Ein tragisch-komischer Sommerroman, von Menschlichkeit belebt.

Susanne Lütje: „Hamlettas wilder Sommer“. Bilder von Marine Ludin. Sauerländer Verlag, 12,90 €