: Spielerische Selbst-Vervielfachung
„Meet and greet“ im Rahmen von „Xtra FREI“: In Bremen trifft sich derzeit die norddeutsche Tanzszene, um sich weiter zu vernetzen und gegenseitig zu bestaunen. Letzteres geht allerdings nur bei einem Teil der gezeigten Produktionen
„Erst mal ein Bierchen“, sagt Bernardo Coloma, macht „plopp!“ und fügt hinzu: „Das ist ein Beck’s. Normalerweise trinke ich Wolters.“ Deutlicher können norddeutsche Tanztage ihre Regionalität nicht markieren – in diesem Fall das „Festival und Forum für Freie zeitgenössische Tanzprojekte im Rahmen des Norddeutschen Tanztreffens“. Für das es zum Glück auch eine Kurzbezeichnung gibt – „Xtra FREI“. Es findet derzeit, das hat wohl die genannte Biermarke klargemacht, in Bremen statt. Bernardo Coloma aus Braunschweig ist einer seiner Höhepunkte.
Der Argentinier gehört seit kurzem zum Ensemble des dortigen Staatstheaters und hat nebenher sein erstes „Solo“ erarbeitet – damit passt er genau in die Zielgruppe von „Xtra FREI“. Das Festival nämlich will sowohl freischaffende Kompanien als auch junge Choreografen städtischer Ensembles fördern. Im Rahmen des bundesweiten „Tanzplans“ hat Bremen unter anderem den Zuschlag für die norddeutsche Vernetzungsarbeit bekommen.
Coloma hat sich jetzt ausreichend gestärkt, nur noch die Jeans muss vom Bein. „Ich habe eine Unterhose an“, informiert der 29-Jährige das zahlreich erschienene Publikum. Das ist nicht zu viel versprochen: Ein zarter fleischfarbener Stretch wird sichtbar, ebenso Knie- und Fußballenpolster. Coloma ist ein Tänzer, der es krachen lässt, sich selbst auf die Bretter knallt. Um im nächsten Augenblick behänd aufzuspringen und vor einem großen Screen, auf dem im Gegenlicht gefilmte Bäume rauschen, weiter zu wirbeln. Dann wieder Bier.
Colomas Lust an Selbstironie ist Victoria Hauke, einer der Hamburger „Xtra FREI“-Vertreterinnen, leider fremd. Sie tanzt unter neun zusammen geschobenen Tischen, macht 36 Beine. Was aber macht ein Körper, der nicht weiß, wohin? Er dreht sich. Gebückt, um die Tischbeine herum, um sich selbst – ohne jedoch das Geringste zu finden. Auch als Hauke der räumlichen Reduktion entflieht und sich endlich die volle Vertikale gönnt, bleibt Beliebigkeit an ihren Bewegungen kleben. Sicher: Ein Hüftschwung kann sich trefflich in die Extremitäten fortsetzen. Die Frage, was Hauke in all ihrer Ernsthaftigkeit unter, neben und auf den Tischen will, bleibt dadurch unbeantwortet. Vielleicht muss hier von „Konzepttanz“ gesprochen werden – um der sich unweigerlich einstellenden Langeweile einen Namen zu geben.
Zum Begriff gehört die Beobachtung, dass ein Solo heutzutage offenbar nur noch als Duett mit sich selbst funktioniert. Um nicht zu sagen, zu dritt: Hauke lässt sich von zwei Eigen-Videos doubeln, die auf hängende Folienrollen projiziert werden. Auch Coloma begleitet sich selbst am eingeblendeten Flügel. Und das an sich sehr sehenswerte „Superstar“-Solo der Bremerin Magali Sander Fetts versinkt letztlich in einer Bilderflut. Die spielerische Selbst-Vervielfachung mag den knappen Ressourcen der Einzelkünstler geschuldet sein, die keine Partner finanzieren können, natürlich auch den zunehmenden technischen Möglichkeiten. Vor allem aber zeugt sie von einem seltsamen Drang nach mehr.
Die bolivianische Hamburgerin Monica Antezana hat solche Multiplität nicht nötig. Für ihre Performance „We don’t know where we come from, but come we did!“, setzt sich mit einem echten Gegenüber auseinander: Goldfisch Steve. Das mag niedlich wirken, hat jedoch entwicklungsbiologische Gründe: Antezana reflektiert den berühmten ‚missing link‘ zwischen der Entstehung allen Lebens im Wasser und dem entscheidenden Schritt aus selbigem heraus. Mit anderen Worten: Sie tanzt den Darwin.
Eine beachtliche kabarettistische Begabung hilft Antezana, derzeit Residenzchoreografin auf Hamburgs Experimentalbühne Kampnagel, entwicklungstheoretische Visionen zu vermitteln. Orientiert an Hans Christian Andersens tanzender Meerjungfrau, zeigt sie gleichermaßen Bewegungsqualitäten, wobei sich ihr fischiges Pendant als kongenialer Performer erweist. Wer in seinem Glas so schöne Kreise zieht, muss wohl wirklich ein entfernter Verwandter sein. Für Norddeutschland bleibt die ebenso evolutionäre Erkenntnis, dass der hiesige Tanz sehr von seinem migrantischen Input zehrt.
HENNING BLEYL
„Xtra FREI“ in der Bremer „Schwankhalle“ endet heute mit „74’“, einer Arbeit des Hamburger Choreografen-Paares Anne Rudelbach und Antoine Effroy (20 Uhr). Bereits um 14 Uhr moderiert Melanie Suchy eine Podiumsdiskussion über die Perspektiven der norddeutschen Tanzszene. Weitere Informationen: www.tanzplan-bremen.de