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Archiv-Artikel

Musste von Boetticher zurücktreten?

RÜCKZUG Die designierte Nummer 1 der schleswig-holsteinischen CDU gibt auf – nachdem seine Affäre mit einer 16-Jährigen bekannt wurde

WAS NICHT VERBOTEN IST, IST NOCH LANGE NICHT KULTURELL LEGITIM, MEINT KLAUS WOLSCHNER

Es ist nicht alles erlaubt

Ein Politiker, der Ministerpräsident werden will, strebt eine Vertrauensposition an. Im Internet posiert die Familie von Boetticher mit dem Hinweis, dass sie seit dem 17. Jahrhundert große Tradition habe. Wenn Christian von Boetticher in dem Moment, in dem er sich entschied, Kurs auf das politische Spitzenamt zu nehmen, die private Liebesgeschichte beendete, dann scheint er ein Problem gespürt zu haben. Besser macht es die Sache nicht.

Was nicht verboten ist, ist noch nicht kulturell legitim. Wes Geistes Kind muss ein 39-jähriger Mann sein, der die Orientierungsprobleme einer 16-Jährigen für ein amouröses Abenteuer ausnutzt und sie dann fallen lässt, sobald die Karriere ruft! „Es war schlichtweg Liebe“, sagt von Boetticher heute unter Tränen – das klänge überzeugender, wenn er für die Liebe auf die Karriere verzichtet hätte.

Was treibt einen erwachsenen Mann dazu, eine Beziehung zu suchen zu einem minderjährigen Mädchen, das seine Tochter sein könnte? Wir wissen es nicht und wollen es auch nicht wissen. Auch Erwachsene haben spätpubertäre Phasen, aber mit 39? Als Ministerpräsident hätte von Boetticher in die Verlegenheit kommen können, dass sein Büro ihm ein paar Reden-Sätze zur Gleichberechtigung in der Partnerschaft aufgeschrieben hätte.

Schlimm ist, dass von Boetticher nun im Nachhinein feststellt, dass sein Verhalten ein „politischer Fehler“ gewesen sei. Die moralischen Vorbehalte sieht er „bei vielen Menschen“, er teilt sie offenbar nicht. Er hatte offenbar gedacht, mit seiner Trennung und der Verleugnung seiner angeblichen Liebe alle Voraussetzungen für die Karriere geschaffen zu haben.

Was für eine Moral! Ein Ministerpräsident, der erst zu seiner „Liebe“ nicht steht und dann öffentlich kundtut, dass Moral sich für ihn darin erschöpft, die Erwartungen „vieler Menschen“ nicht zu enttäuschen, ist charakterlich überfordert.

Politik, das wissen wir seit Machiavelli, ist das Aushandeln von Kompromissen unter Vortäuschung hoher moralischer Ziele. Die Politiker dürfen sich nur nicht erwischen lassen – denn seit Machiavelli haben wir uns nicht daran gewöhnt, dass Lug und Trug, Meineide und Heuchelei zum Geschäft gehören sollen.

Die CDU hat lange Jahrzehnte versucht, ein gesellschaftlich überholtes Familienbild in ihrem Werte-Kanon zu verteidigen und das politisch auszunutzen gegenüber Menschen, die durch die gesellschaftlichen Veränderungen verunsichert waren. Die CDU ist seit den Enthüllungen über das desaströse Familienleben des Bundeskanzlers Helmut Kohl mit dem Vorwurf abgrundtiefer Verlogenheit konfrontiert. Die CDU-Familienpolitik der Kohl-Ära wollte moralische Orientierung geben, immerhin. Und heute? Welche moralischen Grundsätze sollen gelten? Oder gibt es keine, weil alles erlaubt ist, was nicht verboten ist?

Denn da geht es um zwei unterschiedliche Ebenen. Natürlich muss das Strafgesetz sehr vorsichtig abwägen, wo die gewöhnliche Liebesunordnung aufhören und der Straftatbestand anfangen soll. Es ist vernünftig, die strafrechtliche Grenze anders zu ziehen als die Grenze der Moral.

In Liebessachen ist jeder Fall besonders. Um so auffälliger, wie nah der CDU-Kandidat an der strafrechtlichen Grenze entlang geschliddert ist. Sich in einer moralischen Diskussion darauf zu berufen, dass etwas strafrechtlich knapp nicht geahndet wird, klingt nach dummer Ausrede.

KEINE GESETZESVERLETZUNG, KEINE STRAFE – VON BOETTICHER HAT SICH NICHTS ZUSCHULDEN KOMMEN LASSEN, MEINT DENNIS BÜHLER

Spießig und hinterwäldlerisch

Gegen das Strafgesetzbuch hat Christian von Boetticher nicht verstoßen. Auf Geschlechtsverkehr mit seiner Facebook-Bekanntschaft ließ er sich erst nach deren 16. Geburtstag ein. Anzeichen, dass die junge Frau zu sexuellen Handlungen gedrängt worden wäre, bestehen nicht. Im Gegenteil. Von Boetticher soll sogar die Eltern der Jugendlichen um deren Segen für die Beziehung gebeten haben. Und auch die Geliebte selbst ist dem 40-Jährigen nicht böse. „Ich kann bis heute nichts Schlechtes über Christian sagen“, wird sie zitiert. „Es war Liebe.“

Christian von Boetticher, bis gestern designierter CDU-Spitzenkandidat für die Landtagswahl in neun Monaten, mag ein Opfer seiner Naivität sein. Dass die sexuelle Beziehung zu einer Minderjährigen ihn die politische Karriere kostet, darf nicht überraschen. Dennoch sagt es mehr aus über die Funktionsweise einer sensationsgeilen Presse und einer Öffentlichkeit, der der Blick fürs Wesentliche abhanden gekommen ist.

Politiker werden nicht mehr nach Leistungskriterien bewertet. Die Frage ist nicht, ob ein Amtsträger gut regiert, ob er hält, was er vor der Wahl versprochen hat. Oder ob er einen sinnigen, würdigen Wahlkampf bestreitet. Lieber wird mit dem Teleobjektiv in fremde Schlafzimmer gezoomt. Wichtig ist nicht mehr, was im Regierungszimmer vonstatten geht. Entscheidend sind die Bettgeschichten.

Eigentlich aber geht es niemanden etwas an, mit wem Christian von Boetticher unter der Bettdecke verschwindet – solange er sich dabei nicht strafbar macht. An Politiker höhere moralische Ansprüche als an „normale“ Menschen zu stellen, ist heuchlerisch. Glücklicherweise ist das Sexualleben auch von öffentlichen Personen längst das, was es sein sollte: Privatsache. Deshalb regt man sich auch nur noch in arabischen Staaten darüber auf, wenn ein Außenminister offen seine Homosexualität lebt.

Dass sich die Öffentlichkeit nun über die Affäre von Boettichers mit einer 16-Jährigen empört, ist Ausdruck einer Doppelmoral, wie man sie bisher aus den USA zu kennen meinte. Heerscharen von Deutschen posieren halbnackt im Internet, auf dem Pausenhof zeigen Schüler Handys mit Pornobildern rum. Sexualität ist allgegenwärtig. Sobald aber ein Prominenter über eine Affäre stolpert, wird mit dem Finger auf ihn gezeigt. Auch wenn er keine Gesetze verletzt hat – sondern höchstens ein Tabu und vage Sittlichkeitskonventionen.

In einer zivilisierten Welt mit einer fortschrittlichen Gesetzgebung sollten die Rechtssätze jedoch den gängigen Normvorstellungen entsprechen. Keine Strafe ohne Gesetz – das wussten schon die antiken Römer. Auch wenn von Boetticher keine Strafverfolgung fürchten muss, ist er hart bestraft worden. Sein steiler Aufstieg ist zu Ende, politisch ist er bankrott.

Wer seinen Rücktritt für unumgänglich hält, sollte konsequenterweise für eine Gesetzesänderung eintreten. Das Schutzalter müsste angehoben, sexueller Kontakt Erwachsener mit Unter-18-Jährigen gänzlich verboten werden. Das aber ist hinterwäldlerisch und spießig. In Bremen dürfen Jugendliche seit bald zwei Jahren schon mit 16 an Landtagswahlen teilnehmen, in anderen Bundesländern kursieren ähnliche Pläne. Knapp minderjährige Menschen dürfen sich also entscheiden, welchen Politiker sie wählen. Diese Wahlfreiheit sollte auch für den Sexualpartner gelten. Auch wenn der Politiker ist.