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Archiv-Artikel

Terroristischer Tatbestand Soziologie

Die Bundesanwaltschaft ermittelt seit Monaten gegen vier Berliner. Sie sollen der „militanten gruppe“ (mg) angehören. Zwei von ihnen, darunter ein Soziologe, beschäftigen sich mit der Sanierung in Prenzlauer Berg. Kollegen: Vorwürfe sind abstrus

VON UWE RADA

Bei ihren Ermittlungen gegen die „militante gruppe“ (mg) hat die Karlsruher Bundesanwaltschaft seit September letzten Jahres auch vier Ostberliner im Visier. Dies geht aus den Unterlagen der Ermittlungsbehörden hervor, die dem am gestrigen Mittwoch erlassenen Haftbefehl gegen vier mutmaßliche Mitglieder der „mg“ zugrunde liegen.

Unter den vier Ostberlinern befindet sich auch der Soziologe Andrej H., der nach einer Hausdurchsuchung am Dienstag verhaftet wurde. Ihm wirft die Bundesanwaltschaft vor, in seinen Schriften „Schlagwörter und Phrasen“ verwendet zu haben, die auch in den Bekennerschreiben der „mg“ stehen. Ebenfalls der Mitgliedschaft beschuldigt waren drei Personen, bei denen die Polizei Privatwohnungen durchsuchte. Einer von ihnen ist ein Politologe, dem ebenso wie Andrej H. vorgeworfen wird, sich wissenschaftlich mit dem Thema „Gentrifikation“ zu beschäftigen. Gegen diese drei Personen wurde kein Haftbefehl erlassen.

Tatsächlich setzen sich H. wie auch der Politologe seit dem Fall der Mauer mit der Stadtentwicklung vor allem in Prenzlauer Berg auseinander. Anlass waren die geplante Umwandlung eines Hauses in der Kollwitzstraße zum Hotel und die von der Bundesregierung geplanten Mieterhöhungen für Ostberlin. Aus diesen Aktivitäten gründete sich 1991 die Gruppe „Wir bleiben alle“, der sowohl H. als auch der Politologe angehörten. Initiator der Bürgerbewegung war der inzwischen verstorbene PDS-Abgeordnete Bernd Holtfreter.

Nach der Ausweisung von elf Ostberliner Sanierungsgebieten 1994 engagierten sich H. und der Politologe in der Betroffenenvertretung Helmholtzplatz. Gleichzeitig begannen beide, sich im Rahmen ihres Studiums auch wissenschaftlich mit dem Thema „Gentrifikation“, also der Aufwertung bestimmter Wohngebiete und der Verdrängung der Bewohner, zu beschäftigen.

Aufsehen erregte dabei eine Studie, die der beschuldigte Politologe 1997 im Auftrag Holtfreters verfasst hatte. Darin kam er zum Ergebnis, dass über die Hälfte der 140.000 Bewohner den Prenzlauer Berg verlassen hatte. Sein Fazit: „Die ablaufenden Veränderungen scheinen sich fast völlig der Beeinflussung durch die Politik der behutsamen Stadterneuerung zu entziehen. Sie widersprechen diametral den von Senat und Bezirk gesetzten Sanierungszielen eines Erhalts der bestehenden Sozialstrukturen.“

Was folgte, war eine der heftigsten Diskussionen über die Sanierungspolitik in Ostberlin. Mieterberater, Bezirkspolitiker und Sanierungsträger widersprachen dem Autor und warfen ihm vor, Abwanderung mit Vertreibung gleichzusetzen. Andere wiederum forderten, die vorhandenen Sanierungsmittel gezielter einzusetzen.

Inzwischen bezweifelt keiner mehr den Bevölkerungsaustausch in Prenzlauer Berg. Auch die soziale und räumliche Segregation der Stadt, das heißt: der Zerfall in arme und reiche Stadtquartiere, ist inzwischen eine Binsenweisheit. Nicht zuletzt war es der Stadtsoziologe Hartmut Häußerman, an dessen Institut H. arbeitet, der 1999 eine Studie über soziale Brennpunkte in Berlin vorlegte. Diese Studie führte unter anderem zur Einführung von Quartiersmanagern (QM) durch den Senat. Auch in anderen bundesdeutschen Städten wurden sogenannte QM-Gebiete ausgewiesen.

Entsprechend entsetzt zeigte man sich gestern am Institut für Stadt- und Regionalsoziologie der Humboldt-Universität. „Das ist doch vollkommen abstrus“, sagt die Stadtsoziologin Christine Hannemann. „Offenbar soll hier ein Klima geschaffen werden, mit dem Innenminister Schäuble seine Antiterrorpolitik durchsetzen kann.“

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